Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601




St. Martins Dealer - Die Dekonstruktion des „Alles da, alles nah“ 

Bizarres Urlaubsprotokoll mit einem Quäntchen Theologie

Das Dorf, der Dealer und der Stoff - Katrin Göring-Eckardt, der Samariter und der Mantel  – Caritas, Missachtung und Toleranz

Teil 1 – Das Dorf, der Dealer und der Stoff

Am Rande des Wiehengebirges, unweit der geschichtsträchtigen Dom- und Garnisonsstadt Minden wähnte ich mich in all dem Corona-Dauergewitter vor jedweder Unbill des Alltäglichen geschützt. Wenigstens für eine kleine Herbsturlaubszeit lang, das war mein Sehnen, Hoffen und Trachten, sollte das Gute, Schöne und Wahre in Ost-Westfalen-Lippe (OWL) aufscheinen.

So war ich in dieser Auszeit viel mit dem Rad unterwegs, soweit es die Witterung zuließ. Eine dieser Fahrradtouren unterbrach ich mit einer kleinen Rast im Zentrum einer verstreuten 16000-Seelen-Gemeinde, die am Orteingang mit dem Slogan „Alles da, alles nah!“ wirbt. Ja, auch das führt uns zu des Pudels Kern, denn ich konnte nun die Wahrhaftigkeit dieser Werbemetapher in bizarrer Weise kennenlernen. Aber nun der Reihe nach.

Ein Cappuccino sollte neue Kräfte generieren, denn 40 km waren bereits absolviert, 25 km davon mit Gegenwind. Keine Heldentat, aber immerhin. Da der liebe Gott die Pause (und zwar am siebten Tage) erfunden hatte, nahm ich sie mir vorauseilend am Nachmittag eines Werktages zum Vorbild. Im Außenbereich eines Backwarenfachhandels mit integriertem Café, der wiederum einem bekannten Supermarkt angegliedert ist, ließ ich mich nieder und füllte preußisch, wenn auch in sitzender Habachtstellung mein Corona-Bewirtungsdokument aus. Der Automaten-Cappuccino war verkehrsfähig und begann nichtsdestotrotz, meine Sinne zu schärfen. Von meinem Platz aus konnte ich bei Sonnenschein einen recht regen Besucherverkehr beobachten, denn der Supermarkt stellt mit anderen Ladenlokalen in diesem Bereich eine Art Einkaufszentrum dar, das durch die Bewohner des Umlandes doch einen taubenschlagähnlichen Zuspruch findet.

Bis auf eine ältere Dame saß in diesem Outdoor-Café niemand. Sie wirkte mental nicht sehr belastbar, denn mit meinem freundlich zugerufenen Kommentar ob des herrlichen Sonnenscheins konnte sie kaum etwas anfangen. Zu sehr war sie doch mit dem Verglimmen ihrer Zigaretten beschäftigt. Und damit sind wir nun endlich beim eigentlichen Inhalt dieser kleinen Schilderung. Wenigstens dem flüchtigen Anschein nach.

Der Außenbereich des Cafés ist vom umgebenden Parkplatz aus zugänglich. Das muss erwähnt sein, denn nun schritt ein junger Mann vom Parkplatz her kommend auf den Eingang des Supermarktes zu. So schien es zunächst. Er fiel mir, als er näherkam, wegen seines wippenden Ganges auf. Mit nach außen gekehrten Füßen wandte er je Schritt den Schulterbereich etwas zur Seite. Diese – ich sage mal – offensive Art zu gehen kenne ich seit über 18 Jahren, in denen ich an einer sog. Brennpunktschule unterrichte. Auf die letzten Meter hin war ich jedoch etwas überrascht, denn der Herr schritt genau auf mich zu.

Er war bis auf die weißen Turnschuhe schwarz gekleidet. Die etwas dickere Jacke mit Kapuze wirkte stylisch, so würden es Gleichaltrige wahrscheinlich ausdrücken. Seine schwarzen Haare waren ebenso kurz geschnitten wie sein Bart. Insgesamt wirkte er recht gepflegt. Die Körperhöhe würde ich auf ca. 170 cm und das Alter auf ungefähr 20 Jahre einschätzen.

Mit merklich gebrochenem Deutsch sprach er mich zunächst freundlich und ohne Maske an, hielt sich dabei jedoch nicht an die Abstandregel von mindestens 1,50 m: „Zigarette?“ Ein Einwortsatz, zweifelsohne eine appellative Intonationsfrage. Ich war etwas überrumpelt und wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, denn ich hielt es aufgrund seiner offensichtlichen Sprachunsicherheit noch für möglich, dass er vielleicht auch ein Feuerzeug oder Streichhölzer, also steuerbares Feuer zum Entfachen von Brennbarem meinen könnte. Meine Ratlosigkeit und das gleichzeitige Kopfschütteln wusste er doch geübt zu lenken, indem er seine linke Hand öffnete und einen kleinen, etwas unregelmäßig dunkelbraunen und quaderförmigen Gegenstand zeigte, der Ähnlichkeit mit dem allerletzten Rest eines bis zum bitteren Ende gerauchten Zigarillos von maximal einem Zentimeter Länge besaß. Nun war die Botschaft in ihrer Eindeutigkeit nicht mehr zu überbieten. Da ich aber nur langsam denken kann, brauchte ich eine ganze Weile, um die Sachlage zu erfassen. Schneller war mir jedoch der Umstand klar, dass der junge Mann nichts Gutes im Schilde führte und bedrängend übergriffig war.

Er nahm mein eindeutiges „Nein!“ zum Anlass, das Gespräch mit dem Impuls „Ah, Sport machen“ fortsetzen zu wollen. Ich hatte dazu jedoch keinerlei Motivation und machte ihm durch abwehrende Gestik klar, dass die Unterhaltung für mich nun beendet war und er gehen solle. Das tat er jedoch erst, als er mit einem etwas bittersüßen Gesichtsausdruck mit verengten Augenlidern, der auf Enttäuschung schließen ließ, ein „Jaja, welcome, welcome - welcome, welcome!“ von sich gab und dabei noch näher auf mich zukam. An dieser Stelle hätte die Situation durchaus eskalieren können, denn der unbekannte Herr wirkte jetzt recht frustriert und aggressiv. Plötzlich wandte er sich jedoch von mir ab. Der Außenbereich des Cafés ist durch Fenster und eine beglaste Tür von der Bedienungstheke der Bäckereiverkaufes einsehbar.

Seine zynische Einlassung, von mir doch bitteschön eine affirmative und umsatzsteigernde Willkommenskultur erwarten zu können, evozierte wiederum mein Unverständnis, das mich ein deutliches und gleichwohl unbeholfenes „Was soll das?“ hinterherrufen ließ. Daraufhin sagte der junge Mann ein paar Worte in einer ihm vertrauteren Sprache, die ich nicht kenne, aber bereits gehört hatte. Seine Prosodie und das Abwenden des Gesichtes ließen darauf schließen, dass sie etwas sehr Unhöfliches zum Inhalt hatten. So entfernte sich der junge Anbieter der gemütsstimulierenden Substanz zum für mich nicht mehr einsehbaren Teil des umliegenden Parkplatzes.

Alles da, alles nah. Jetzt kann ich’s dekonstruieren.

Teil 2 – Katrin Göring-Eckardt, der Samariter und der Mantel

Auf der baldigst angetretenen Weiterfahrt deklinierte ich das Erlebte durch. Eine Autofahrerin aus dem Kreis Herford verdeutlichte mir nochmals die Dramaturgie auf eine gänzlich andere Art und Weise: Sie übersah mich als den eindeutig Vorfahrtberechtigten auf einer Kreuzung von Landwirtschaftswegen. Als sie endlich zum Halten kam, saß sie für unendliche Sekunden nahezu versteinert hinter ihrem Steuer und fuhr danach unvermittelt weiter. Gut, dass ich das alles irgendwie ahnte und als Erster bremste, denn ein Fahrrad hat weder Gurt noch Airbag.

Meine Gedanken vermochte ich nun nicht mehr zu bremsen. Denn mir wurde erst jetzt so wirklich klar, dass ich zuvor Kontakt mit einem Dealer hatte; und das ausgerechnet in dem ebenso wertvollen Teil meines Lebens, den man Freizeit nennt, denn beruflich werde ich immer wieder mit den Folgewirkungen dieses Milieus konfrontiert. Ich weiß, was völlig zugekiffte Schüler im Unterricht bedeuten. Aber hier auf‘m Dorf in OWL, direkt auf dem puren Präsentierteller? Das war unverhofft neu für mich. Vor allen Dingen wurde mir klar, wie total naiv ich war.

In meiner Unterkunft angelangt wollten mich die Gedanken nicht loslassen. Ich wollte mehr wissen und fuhr nach einer kurzen Pause jetzt mit dem Auto zum Ort des Geschehens zurück. Und siehe da, der junge Mann war immer noch dort und sprach andere erhoffte Handelspartner auf dem Parkplatz an. Es gelang mir mit der Aufregung eines schlichtweg überforderten Privatdetektives, vom Auto aus ein Foto des jungen Mannes zu machen. Meine Sorge war, dass mir die Geschichte niemand glauben würde. Diese Bedenken erwiesen sich jedoch recht schnell als unbegründet. Mit einem Kunden des Supermarktes, der den Dealer abblitzen ließ, führte ich ein freundliches Gespräch. Nach einigem grinsenden Herumdrucksen gestand er, dass der Ort ebenso wie die zu Beginn genannte Stadt zu einem Hotspot dieser besonderen Couleur von Import und Export geworden sei.

Ich hatte noch anderes und das dann Gott sei Dank auch andernorts zu erledigen. Auf der Rückfahrt durch besagte Gemeinde konnte ich den jungen Herrn das dritte Mal an diesem Tag erblicken. In der Dunkelheit war er angesichts der mäßigen Ausleuchtung der Hauptstraße gut an seinen weißen Turnschuhen zu erkennen. Ich sah ihn am Ortsrand, ein paar hundert Meter entfernt von einer Ansammlung von Wohncontainern, einem sog. Übergangswohnheim für „Flüchtlinge und Obdachlose“, wie die Gemeinde schreibt.

Mein Perspektivwechsel wunderte mich kaum: Plötzlich tat mir der Typ einfach nur leid. Welche Tristesse mag er vor der Folie seiner Sehnsüchte und Hoffnungen erleben. Für ihn kehrt sich möglicherweise der Slogan der Gemeinde zu einem „Alles da und doch so fern!“ um. Und unter welchem Druck mag er stehen, möglichst viel Geld seiner Familie ins Heimatland zu überweisen? Was ist aber mit denen, die dort im Heim wohnen und ganz und gar nicht dem Beispiel unseres Handelstreibenden folgen? Ich gehe davon aus, dass es der größere Teil der Bewohner ist.

So erinnerte ich mich im Laufe des Abends exkursartig an die nahezu delirante Petitesse von Katrin Göring-Eckardt, die doch ungefähr acht Semester Evangelische Theologie studiert hatte. Genauer kenne ich ihren damaligen Studiengang (vor Bologna) nicht. Es wird stets genüsslich geschrieben, dass sie doch so etwas wie eine gescheiterte Theologin sei oder wäre. Nein, einen Abschluss hat sie offensichtlich nicht, aber die Zwischenprüfung nach dem Grundstudium, das sog. Philosophicum wird sie doch sicherlich nach regulären vier Semestern absolviert haben. Immerhin kann man sich danach „cand. theol.“ nennen, was gar nicht einmal unglückselig gegendert werden müsste.

Umso erstaunlicher war für mich, dass Katrin Göring-Eckardt jüngst in einem ähnlichen Zusammenhang erklärte, wie der barmherzige Samariter schließlich tatkräftig geholfen habe, indem er seinen Mantel geteilt hätte. Vermutlich litt sie bereits im Konfirmandenunterricht unter Sekundenschlaf, denn der Samariter beim Evangelisten Lukas (Lk 10) war mitnichten der Bischof Martin von Tours. Da insofern seine Identität im Ansatz auch ohne Pass geklärt ist, stimme ich der Kollegin in spe vollumfänglich zu: Man muss helfen, das ist die Christenpflicht. Wahrlich. Nur wem, wie und vor allem wo? Und welche Bedeutung erlangt vor allem die Subsidiarität und deren Ort als eine der drei Säulen der christlichen Soziallehre? Fragen über Fragen, die ich nicht beantworten kann.

Nach fünf Jahren Flüchtlingsarbeit, die ich beruflich tagtäglich als Additum zu leisten habe, bin ich ratloser denn je. Für mich stellt sich noch eine weitere, eher pragmatische Frage: Wie gehen wir mit dem gar nicht einmal so kleinen Anteil derjenigen Nächsten um, der sich gar nicht helfen lassen möchte, da er in einem völlig anderen Koordinatensystem internalisiert wurde und dort – oft allein schon sprachlich – entschieden verbleiben möchte? 

Teil 3 – Caritas, Missachtung und Toleranz

Mit Familienmitgliedern wettete ich, dass das alles niemanden interessieren würde. Meine berufliche Alltagserfahrung lasse mutatis mutandis nur recht Enttäuschendes zu. Zumindest sei es bei der Polizei in einem Höchstmaße davon abhängig, an wen man gerade gerate. Nein, so die anderen, das müsse man auf jeden Fall melden. Zumindest der Leitung des Supermarktes. Die seien doch wegen des Eigeninteresses motiviert.

Gesagt, getan. Am nächsten Tag stand ich mittags wieder im Café. Die Bedienung, der ich das Foto zunächst zeigte, konnte sich an den Herrn gut erinnern. Er sei da immer umhergegangen und habe oft in den Laden geschaut. Die mittlerweile herbeigerufene Marktleiterin war etwas baff und gleichzeitig sehr aufmerksam. Während des Gespräches wurde mein Handeln als im Nachhinein sinnvoll gewertet, während des Vorfalls nicht größeren Alarm geschlagen zu haben. So hätte ich mich selbst vor einer vielleicht nicht mehr steuerbaren Situationsdynamik geschützt. Die junge Marktleiterin versicherte mir, sowohl Kollegen als auch die Polizei zu unterrichten und schrieb mir ihre E-Mailadresse auf, um das Foto von mir erhalten zu können. Insgesamt wirkte sie auf mich ambitioniert, schließlich nimmt sie das Hausrecht für Supermarkt, Café und Parkplatz wahr. Das Foto hatte sie 10 Minuten später auf Ihrem PC.

Wieder einen ganzen Tag später war ich erneut dort, um einen Cappuccino und ein Mini-Frühstück zu mir zu nehmen. Es war wohl der letzte Cappuccino dort. Er schmeckte mir nun zu fade. Beim Verlassen des Cafés ging die Marktleiterin an mir vorbei, erkannte mich und sagte indes außer einem aufmerksameren „Hallo!“ nach einem zweiten Blick nichts, wie auch meine Mail mit dem Foto im Anhang keine digitale Reaktion hervorrief.

Wie dem auch sei: Könnte es nicht sein – und darauf brachte mich die Korrespondenz mit einer Ex-Einwohnerin der Gemeinde –, dass die weitgehende Nichtbeachtung des jungen Mannes so etwas wie eine zynische Missachtung ist? Ich werde nicht der Erste gewesen sein, der mit ihm Kontakt hatte; es war auch sicherlich nicht sein erster Handelstag und offenbar fiel er bereits auch anderen auf. Belässt man – so die Gedanken der Absenderin – auf diese Art und Weise das Fremde beim Fremden? Und wird das nicht vielleicht insgeheim kollektiv gewünscht, um sich auch gar nicht mit ihm auseinandersetzen zu müssen?

Ich führe diesen Gedanken noch weiter: Der Dealer missachtet unsere Regeln und wir missachten ihn, indem wir ihn und die Regelübertretung ignorieren. Zuweilen wird diese Gleichgültigkeit – wohl ganz im Sinne einer Analyse von Alexander Mitscherlich – als Toleranz deklariert und ohne die Demaskierung ihrer Vorgeblichkeit zufrieden wahrgenommen. Seine Welcome-Reaktion zeigte ja, dass er mit dieser Indifferenz rechnete.

Mit Fragen womöglich utilitaristischer Art bleibe ich ratlos zurück. Gleichwohl berühren sie die Caritas im Sinne der drei göttlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung – fides, caritas, spes) im engeren Sinne: Wie könnte sich barmherzige Mantelteilung für den jungen Mann konkretisieren lassen? Welche Möglichkeiten instruktiver und gar autoritativer Zuwendung besäßen wir? In welchem Maße und an welchem Ort wäre diese angebracht, um eine größtmögliche Effizienz auch unter Zuhilfenahme subsidiärer Synergien zu erreichen?

Denn das Ziel lautet: Um ihm, seiner Familie und somit auch seinen möglichen Schwestern schlichtweg zu helfen.

© Matthias Paulus Kleine/31.10.2020


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Ein Hinweis für die Freunde des Gender*Glottisschlags: Der Autor dieser Zeilen verwendet wohlbegründet das sog. generische Maskulinum.

Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bassenheimer_Reiter_(2009-10-19_Sp).JPG


                                                                                                                      

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