Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601

           

                                                                                                                                        

Thorsten Maus in St. Reinoldi                                               oder "Wie kommt man dazu, dieses fantastische Instrument abreißen zu wollen?"                                                                                                                        

“Gerade von einer “Spionagetour” ins westfälische Dortmund zurückgekehrt (der Stadt, die sich im Frühjahr dieses Jahres endgültig von ihrer letzten oberirdischen Straßenbahn verabschiedet hat - zugunsten eines “modernen” U-Bahn-Tunnels … auch ein krasser und höchst überflüssiger Bruch mit der Vergangenheit), stehe ich noch ganz unter dem Eindruck der großen Walcker-Orgel (4 Manuale, 72 Register), von der ich mir endlich einmal einen ganz persönlichen Klangeindruck verschaffen wollte.

Thorsten Maus (*1972), seines Zeichens A-Musiker mit Auszeichnung in Improvisation und seit 2004 Kirchenmusiker (Kreisdekanatskantor) an der Propsteikirche St. Peter in Recklinghausen, gestaltete die 10. Orgelfeierstunde in der altehrwürdigen Dortmunder Kirche St. Reinoldi - die übrigens eine evangelische Stadtkirche ist.

Die Kirche hat von der Bestuhlung her eine Besonderheit, als dass die hinteren Bankreihen dem Altarraum den Rücken zukehren und stattdessen in Richtung Orgelprospekt und freistehenden Spieltisch schauen. Ich bevorzugte allerdings den Blick nach vorne in den Chorraum, um mich voll auf die Musik (und nicht auf den Spieler) konzentrieren zu können. Wohltuende Ruhepunkte für die Augen bildeten das wunderschöne Altarretabel, sowie ein kleines Meer aus bernsteinfarbenen Teelichtern, das auf den Altarstufen angelegt worden war.

Nach eine kurzen Einführung durch den etwas schüchtern, aber sehr sympathisch wirkenden Solisten, die aufgrund eines ausgefallenen Mikrofons nur etwa für Leute mit ganz spitzen Ohren war, startete Maus mit einem der bekannteren Stücke des ansonsten außerhalb der Insel nur wenig verbreiteten Engländers Alfred Hollins (1865-1942), dem Trumpet Minuet. Ganz auf die Solowirkung einer Tuba Mirabilis hin komponiert (die Maus mit dem Register Feldtrompete 8′, dem einzigen Horizontalregister der Orgel, treffend zu imitieren verstand), verströmte das durch und durch heitere Stück britische Noblesse und galante Anklänge an längst vergangene Epochen.

Das zweite Werk des Abends, die Ciacona con variazioni von Sigfrid Karg-Elert (op. 142, 7) möchte man zukünftig öfter hören. Ein relativ kurzes Stück im typischen Chaconne-Stil, das fast unhörbar beginnt, sich bis zum Fortissimo steigert, um dann zum Schluß ganz verinnerlicht zu verklingen. Der Solist machte dieses kurzweilige Variationenwerk zu einer Art Schaustück, das die unterschiedlichsten Klangmöglichkeiten der Walcker-Orgel von glutvoll tiefen Grundstimmen über spritzige Aliquote und kurzbecherige Zungen bis hin zum brausenden Tutti (das dabei niemals erdrückte!) aufs Beste auszuloten wusste.

Es folgten zwei Eigenkompositionen von Thorsten Maus: Aus seinem Orgelalbum I die Stücke Pastorale Mélancholique und Erinnerung. Gediegene, gemäßigt moderne meditative Stücke von höchstens mittlerem Schwierigkeitsgrad, die zwischen Spätromantik und Moderne alterierten, und die bisweilen stark an Engländer des 20. Jahrhunderts gemahnten (Archer, Rawsthorne et al. lassen grüßen!). Vielleicht hat Maus hier auch an die liturgischen Bedürfnisse seiner C-Organisten gedacht, für deren Ausbildung er mitverantwortlich zeichnet. Mir haben die Stücke wirklich gut gefallen … Erschienen sind diese im niederländischen Cantique-Verlag. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung.

Über das zentrale Werk des Abends, die Passacaglia und Fuge BWV 582, braucht man keine großen Worte zu verlieren - Maus gestaltete diese mit langem Atem, der sich ganz der Monumentalität der Musik hingab. Da war kein Hasten und kein Drängen, kein Wischi-Waschi und kein vordergründiges Virtuosentum, sondern ein großartiger organischer Fluss, der sehr bezwingend und mitreißend zum Ende kam. An manchen Stellen schien Bach tatsächlich Minimal Music komponiert zu haben, so stark meditativ war auf mich die Wirkung des immer wiederkehrenden Passacaglia-Themas.

Als leisere Ruhepunkte nach diesem Monumentalwerk spielte Maus dann Scherzo und Adagio aus der Suite Modale des Belgiers Flor Peeters (1903-1986). Durch eine hochinteressante Solo-Zungenregistrierung im Scherzo (Trichterregal 8′?) bekam dieses Stück beinahe drehorgelartige Züge.Der vorletzte Block, der sich aus zwei Stücken des Franzosen Guillaume Lasceux (1740-1831) zusammensetzte, vermochte indes nicht recht zu überzeugen. Duo und Marche gerieten doch ein wenig zu vordergründig, wobei gerade der Marsch recht gepflegte Langeweile mit Brillenbass-Harmonik verbreitete. Vielleicht gibt es von Lasceux Besseres - dies ließ mich musikalisch völlig kalt, wenngleich Maus wieder sehr einfallsreiche Klangfarben verwendete. Gottlob waren es aber beides nur ganz kurze Werke.

Am Schluss des Abends sollte eine Improvisation stehen, über deren Thema sich Herr Maus nach eigenen Angaben zu Beginn des Konzertes noch nicht klar war. Als der Lasceux dann aber verplätschert war, drehte sich der Solist zum Publikum und kündigte eine extemporierte Fantasie über das “Lumen Christi”, dem bekannten Ruf in der Osternacht, an. Hier zeigte Thorsten Maus, dass er nicht nur ein guter Literaturspieler, sondern ein ebenso begabter Improvisator ist: mit Verve stürzte er sich in Tasten; das Werk changierte zwischen großen Lautstärkekontrasten, wobei das Thema immer gut zu hören war. Äußerst virtuos und mit deutlich französischen Anklängen führte der Solist die angeblich nur neobarocke Walckerin auf ungeahnte symphonisch-romantische Höhen. Nach einer leisen Passage endete Lumen Christi in einem mitreißenden Finale. Lebhafter Beifall der leider nur ca. 35 Zuhörer, den Thorsten Maus mit einer kurzen Zugabe, einer Impro im Stil eines kleinen barocken Concerto-Satzes belohnte. Herrn Maus habe ich ganz bestimmt nicht zum letzten Mal gehört!

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Der Vorhang zu - und alle Fragen offen!                                                                      
Nach dem Besuch dieses wirklich wunderbaren Konzertes an der Walcker-Orgel von 1958 (ich habe sie zum ersten Mal gehört!) drängt sich mir die Frage auf: Wie kommt man dazu, dieses fantastische Instrument abreißen zu wollen? War ich zuerst skeptisch, auch nachdem, was ich hier im Forum gelesen hatte - und auch, weil ich neobarocke Schreikisten ja eigentlich so gar nicht mag - muss ich jetzt konzedieren, dass ich mich bei St. Reinoldi vollkommen getäuscht habe. Diese Orgel ist überhaupt nicht schreiend oder brutal, sondern herrlich sonor und klanglich vollkommen ausgewogen. Das kraftvolle und brausende Tutti hat mich wirklich umgehauen - im positivsten Sinne des Wortes, aber auch die solistischen Stimmen brauchen keinen Vergleich mit neosymphonischen Neubauten zu scheuen.

Das Konzert mit Thorsten Maus war vieles, es war aber auch auf jeden Fall eine musikalische Demonstration gegen den Abriss dieses unersetzlichen Klangdenkmals! Wer diese Orgel abreißen will, versündigt sich aufs Schlimmste … Aber wie war das nochmal mit der historisch gewachsenen Straßenbahn in Dortmund? Die wurde auch abgerissen, weil man was “Modernes”, nämlich eine U-Bahn haben wollte. Ähnlich dünkt mich der Fall mit St. Reinoldi - man hat keinen Respekt vor der Vergangenheit (die weder marode noch desolat war bzw. ist, sondern hervorragend funktioniert), sondern will halt mit aller Gewalt “was Neues”, was aber nicht unbedingt auch besser sein muss.

Bin mal gespannt, wie es weitergeht …”

RationisCausa/10.10.2008 in orgelforum.de 
  
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          

                                                                                                                                                                                                                                                       

                                                                                                                               

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