Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ Anlässlich der unangekündigten anwaltlichen Abmahnung (911,80 Euro) durch OrganArt Media (Prof. em. Dipl.-Ing. Helmut Maier) wurden hier 28 verbraucherorientierte Seiten zur Software Hauptwerk und deren Samplesets gelöscht, um weitere Abmahnungen zu vermeiden. |
Die Computer-Orgelsimulation "Hauptwerk" im Spannungsfeld von Projektion und Profit
Eine Hauptwerk-Orgel braucht man im Himmel nicht und in der Hölle spielt ohnehin niemand
Subjektive Betrachtungen zu einer anglo-amerikanischen Software im Nischenmarkt der sogenannten Orgelliebhaber unter besonderer Berücksichtigung musiksoziologischer Aspekte
Teil 2
6. Der Klick-Faktor: Die Hauptwerk-Denunziation und die ... 7. Geschlossene Hauptwerk-Gesellschaft? 8. Ideologisches Identifikationsterrain mit religiös-mystischen Topoi? 9. Religionsphänomenologisches und Salutogenese 10. Sancta Simplicitas & Co.
11. Drei Thesen zur Frage: „Akustischer Photoshop“ als völlig falsches Medium? 12. Die Dilemmata der ausgeliehenen Klänge und die Illusion gestrenger Lizenzen 13. Hauptwerk-AGB-Satire à la „Und das war's dann halt“? 14. Zurück zur OrganArt Media-Abmahnung: Sturm im Wasserglas?
6. Der Klickfaktor: Die Hauptwerk-Denunziation und die Vergleichswaschmaschine ...
Mir wurde zunehmend unwohl, da ich doch so manche Hauptwerk-Posse als durch und durch verlogen wahrnahm. Dazu einige wenige Darstellungen meiner Schlüsselerlebnisse, sie mögen die Sachlage symptomatisch veranschaulichen.
So brüstete sich bei mir beispielsweise ein bekannter Sampleset-Hersteller per E-Mail höchstpersönlich damit, zwei Konkurrenten nach vollzogenen Samplings jeweils bei einer Kirchengemeinde und einem Orgelbauer denunziert zu haben. Sinngemäß soll den Adressaten vorgetragen worden sein: Wissen Sie überhaupt, was da eigentlich so bei Ihnen mit diesen Aufnahmen meines Konkurrenten gemacht wurde? Digitalorgel-Hersteller könnten doch auch diese Hauptwerk-Sets für sich „ausschlachten“! Die besagten Hersteller von Digitalorgeln wurden übrigens mit einem abschätzigen Begriff bezeichnet.
Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, welche besonderen - um nicht von niederen zu sprechen - Beweggründe, wenn nicht gar Abgründe sich da aufgetan haben müssen. Und so kann ich dieses Intermezzo eigentlich immer noch nicht fassen. Es besaß für mich einen gewissen Klick-Faktor. Das Jammern eines Enthusiasten, der ein Internet-Forum zum Produkt Hauptwerk betreibt, über ein seiner Aussage zufolge habitualisiertes Denunziantentum in der Szene vermochte ich erst später umfänglich einzuordnen.
Aber auch weitere Gelegenheiten sollte meine Eindrücke verstärken: So vernahm ich z.B. in einem Gespräch während der Pause einer öffentlichen Hauptwerk-Darbietung von einem Rezensenten eine äußerst kritische Meinung über bestimmte „absolut astronomisch hochpreisige Sets“, die von derselben Person wenige Wochen später in einem Hochglanz-Magazin der nicht mehr maximierbaren Lobhudelei zum Opfer gefallen. Dort war nun schlichtweg das schiere Gegenteil hinsichtlich der Preise zu lesen. Ich war sprachlos. Wie wurde dieser verhaltensoriginelle Gesinnungswandel innerhalb so kurzer Zeit generiert? Durch ein oder mehrere Gratis-Sets? Die genannte Produzent-Rezensent-Liaison soll übrigens mittlerweile nicht mehr bestehen. Der bekannte Produzent hatte wohl - wie in der Szene mehrfach multipliziert wurde - den Bogen der als sehr arrogant empfundenen Einflussnahme deutlichst überspannt.
An die versuchte Einflussnahme auf die Hauptwerk-Inhalte in meinem Online-Journal und mein diesbezügliches Ignorieren hatte ich mich fast schon gewöhnt, denn das schien auch anderen multiplizierenden Usern, die jedoch – und im Gegensatz zu mir – augenscheinlich bis heute schadlos gehalten werden, so zu ergehen. Als ich darüber hinaus noch spürte, wie ich mich durch das mögliche Eingehen auf angebotene Set-Rabatte (ich war ja schließlich Multiplikator, aber wegen meiner von Anbeginn an verbraucherfreundlichen resp. etwas kritischen Grundhaltung noch nicht so weit aufgestiegen, dass ich die üblichen kostenfreien Rezensionssets erhielt) in die Spirale der Manipulierbarkeit hineinbegeben könnte, war meine persönliche Erkenntnis deutlich vorhanden: Diese Software-Ständegesellschaft mit den äußerst unterschiedlichen Anspruchsberechtigungen und Abhängigkeitsgefällen wirkt auf mich wie eine marginale Arkandisziplin. Vielleicht war ich aber bis dahin auch nur unbedarft, was diese für mich ideologisch definiert erscheinende Blogcommunity oder "geschlossene Hauptwerkgesellschaft" (Zitat) anbelangt.
Über weitere höchst peinliche Petitessen hinaus, über die ich hier auch aus rechtlichen Gründen nicht schreiben mag, setzte eine gefühlt abschließende Hauptwerk-Ernüchterung dann bei mir u.a. ein, als ich persönlich den deutlichen Eindruck hatte, dass notwendige Nachbesserungen von Mängeln nicht unbedingt zu den Lieblingsthemen von Hauptwerk-Samplesetherstellern zu gehören scheinen. Mir persönlich ist lediglich eine äußerst(!) geringe Anzahl von Herstellern bekannt, die vorbildlich nachbessern. Das Erstellen neuer Sets scheint vordringlich zu sein.
So ergab für mich z.B. die Nachbesserung eines erworbenen und vorgeblich goldenen Sets, nachdem sie dann endlich einmal auf den Weg gekommen war, leider nur eine sehr geringe Beseitigung des festgestellten Mangels. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht so weit, dem Händler ultimativ mit Fristsetzung zu schreiben: Hier liegt ein verdeckter Mangel vor, den möchte ich bitte unverzüglich behoben wissen, ansonsten verlange ich mein Geld zurück! Erst im Nachhinein kam ich darauf, in meinen Hauptwerk-News explizit zu einem Kauf beim Händler zu raten, weil die rechtliche Einwirkungsmöglichkeit dort doch vielleicht größer zu sein scheint. Gewundert hat mich, dass es noch nie zu Klageverfahren seitens der Käufer gekommen sein soll.
Ein weiteres wichtiges Update zum Mangel eines anderen von mir neu erworbenen Sets musste ich mir mehr oder weniger erflehen. Nebenbei: In einer vollmundig preisenden Hochglanz-Rezension wurde der kapitale Fehler des Sets hinsichtlich seiner elementaren Notwendigkeit erst gar nicht erkannt. Tatsächlich wurde mir zunächst auf meine Bitte um Nachbesserung vom Hersteller gesagt, dass ein Update mit all den notwendigen Tests doch sehr sehr viel Zeit und Arbeit in Anspruch nähme und man übrigens auch noch mit einem ganz anderen Auftrag beschäftigt sei.
In diesem Zusammenhang fällt mir auch immer wieder ein deutscher Sampleset-Käufer ein, der lt. Hauptwerk-Forum ein wohl in 2007 durch durch den Hersteller zugesagtes und bislang nicht erstelltes Update zu einem Set über Jahre hin (nota bene!) öffentlich zu erbitten wagte. Ich vermute, dass der genannte Kunde die Hoffnung bereits aufgegeben hat. Sehr unfein wirkte dabei auf mich, dass ein weiterer Hauptwerk-Forenmoderator aus Salte Lake City den Kunden meinem Eindruck zufolge ins Lächerliche (O-Ton "necro-thread") zu ziehen versuchte. Das mittlerweile veraltete Set kostet übrigens immer noch 420 €. Erst jetzt konnte ich erfahren, dass das Sampling möglicherweise erschlichen war.
Kurzum: Es stellte sich für mich individuell die äußerst eindringliche Frage nach verlässlichen Hauptwerk-Produkten für mehrere hundert Euro.
Nur zum Vergleich: Eine derartige Waschmaschine würden meine Frau und ich nie und nimmer akzeptieren. Gelten im Marktfeld Hauptwerk andere Regeln des Geschäftlichen? Ich stelle persönlich fest, dass man sich zuweilen mit dem unausgesprochenen Verweis auf einen "Nischenmarkt" eine herstellerfreundliche Komfortzone leisten zu können glaubt. Vermutlich ist das gesamte Hauptwerk-Geschäftsmodell aus Software und gänzlich unabhängigen Sampleset-Herstellern für mich dadurch auffällig, dass auch die eignerseitige Setherstellung hinsichtlich des Preises, des Supports und der Qualität von mir als optimierbar wahrgenommen wird. Somit fehlt allen Hauptwerk-Subunternehmern möglicherweise auch eine gewisse stringente Orientierung.
Es stellt sich auch die folgende Frage: Ist der Hauptwerk-Markt angesichts des Verhältnisses von Anwenderzahl und der Anzahl neu erscheinender Sets in Bezug zum verlangten Preis als hinlänglich gesättigt zu betrachten? Es gibt Hinweise dafür, dass dieses zutrifft. Man kann letztlich nur vermuten, was sich wirklich hinter den Kulissen abspielt; die gefühlte Heimlichtuerei besitzt m.E. in puncto Hauptwerk bereits beste Tradition. Ein britischer Power-User parodierte unlängst dieses Thema. Dazu seine Ausführungen im O-Ton:
“Producer: "We're releasing a new sample set."
Public: "What is it?"
Producer: "We're not telling you."
Public: "When are you releasing it?"
Producer: "We're not telling you."
Public: "Is it an organ...?"
Producer: "We're not telling you."
Public: "How much will it cost?"
Producer: "We're not telling you. But it'll be a lot. Probably thousands. Maybe ten thousand if we can split it into enough parts. Would you consider $100 per stop?"
Public: "So you're trying to generate hype about a collossally expensive new product, without telling us what it is, when it's being released or why we should be excited?"
Producer: "We're not telling you."”
7. Geschlossene Hauptwerk-Gesellschaft?
Die bekannten Worte eines veritablen Organisten von der sog. geschlossenen Hauptwerk-Gesellschaft sind meinen Recherchen zufolge nahezu gänzlich (sic!) aus den Internetforen gelöscht worden. Der Betreiber eines plakativ als unabhängig dargestellten Digitalorgel-Internetforums erwähnte mir gegenüber einmal, dass es immer wieder zu diesbezüglichen Beanstandungen und Löschungen komme, er sich jedoch selbstverständlich an die jeweiligen Details der Vorgänge keineswegs zu erinnern vermöge. Ein Schelm, wer Böses und an die Unabhängigkeit von Internetforen denkt.
Das Hauptwerk-Zitat lautete lt. Archiv übrigens: "Was mir nämlich nicht behagt, ist das System einer von diversen Anbietern von Hardware und Software, von „Hochglanz“-Rezensenten und von finanziell überdurchschnittlich gut ausgestatten Kunden, die allesamt gelegentlich bis zum Rang eines Gurus aufsteigen können, dominierten „geschlossenen“ Hauptwerk-Gesellschaft."
Das alles wäre jetzt das Thema einer kleinen Hausarbeit für Soziologie- und/oder Psychologiestudenten, denn vom devot blassen und „Wonderfull!“ jubelnden Rentner, dem ambitionierten Orgelschüler (dem der YouTube-Clip durch den vorgeblich wissenschaftlich arbeitenden Set-Hersteller ultimativ verboten wird), dem schlichten Muttersöhnchen oder tumb geifernden Anhänger eines jeweiligen Setvertriebs bis zu den teilweise sich gegenseitig eifrig nachstellenden Subunternehmern und den gefürchtet-hochverehrten Grand Seigneurs (denen kommerzielle Aufnahmen Hauptwerk-Aufnahmen jedweder Art selbstverständlich erlaubt werden) besitzt diese kleine Szene meiner persönlichen Einschätzung zufolge alles an Archetyp-Varianten. Unwillkürlich fühlt man sich an die Fiktion des kleinen Küstendorfes in Aremorica erinnert. Aber der Zaubertrank wirkt bekanntlich ja nur für eine gewisse Zeit, auch dann, wenn man an Zauberei glauben möchte.
Was denken Sie, wenn Sie Worte wie „Hauptwerk-Bibel“ oder „Hauptwerk-Gemeinde“ aus dem Munde von Nutzern eines Software-Samplers hören? Meine These lautet: Die Software Hauptwerk stellt für nicht wenige User ein überhöht wahrgenommes Identifikationsterrain dar. Hauptwerk mitsamt seiner immer wieder - selbst mit spezifischen T-Shirts - inszenierten Community weckt als Software nicht nur organophile Sehnsüchte. Es sind Hoffnungen, die sie zwangsläufig und schon gar nicht umfänglich erfüllen kann.
Ich habe diesen Umstand der Überidentifikation von Nutzern mit der Hauptwerk-Software seit Jahren als Ideologie beschrieben. Nicht nur Samplesethersteller-Postings weisen m.E. zuweilen einen Kontrollverlust bzgl. der Wahrnehmung von virtuellen Wünschen und sachlichen Gegebenheiten auf. Die obsessiven Auswüchse, die zudem soziale Kompetenz in peinlicher Weise vermissen lassen, will ich hier auch aus rechtlichen Gründen nicht explizit auflisten. Diese sind in der Tat für Erwachsene zuweilen unglaublich. Der Grundzug des Eskapismus durch die Hauptwerk-Nutzung dürfte gleichwohl jedem Beobachter augenscheinlich sein.
Wie wäre es denn anders zu kennzeichnen, wenn ein recht bekannter Konzert- und Hauptwerkdemo-Organist in seinem Webauftritt über lange Zeit das vorgebliche Spiel auf der prominenten Domorgel seiner eigenen Stadt als MP3-Download anbietet, diese MP3 jedoch mit einem über 1000 km entfernt aufgenommenen Hauptwerk-Sampleset präsentiert? Eine wirkliche Täuschungsabsicht mag ich ihm zunächst gar nicht einmal unterstellen, denn die Orgeltypen unterscheiden sich für das geübtere Ohr doch sehr. Ich glaube jedoch, dass für ihn die Grenzen zwischen Hauptwerk und der Wirklichkeit tatsächlich deutlich verschwimmen und ihn dieser Kontrollverlust die ganze Angelegenheit sehr viel weniger scharf wahrnehmen lässt. Übrigens hat er nach der Veröffentlichung dieses Textes die besagte MP3 entfernt.
Ein gerüttelt Maß an Hauptwerk-Usern bewegt sich offenbar innerhalb einer virtuellen Scheinwelt, die oftmals den Lebensabend mit einem wie auch immer gearteten Sinn erfüllen soll. Stutzig wurde ich vor ein paar Jahren, als mir ein User ganz beiläufig schrieb, dass seine Hauptwerk-Orgel mit einem bestimmten Sampleset "lebt". Nur wenige Nutzer sind sich wirklich darüber im Klaren, dass sie mit Hauptwerk allein aus technischen Gründen mitnichten ein hinreichend digitalisiertes Replikat des Originalinstruments spielen können (siehe Abschnitt 11. - Drei Thesen zur Frage: „Akustischer Photoshop“ als falsches Medium?). Dieser Hauptwerk-Eskapismus paart sich häufig mit einer Art konfessioneller Software-Wagenburg, was auch manche befremdlich wirkenden internen Streitigkeiten erklären mag, denn jeder Sethersteller hat seine keineswegs konfliktscheue treue Anhängerschaft hinter sich versammelt.
Ein Hauptwerk-Neuling beschrieb mir seine diesbezüglich frischen Eindrücke einmal sogar mit dem schlichten Wort "Sektierertum". Für diese Sicht spräche vielleicht z.T. auch neben der Marginalität des Hauptwerk-Marktes der weitere Umstand, dass das in HW-Kreisen oftmals gepflegte Vokabular in der Tat durchaus religiös-mystischen Topoi zugeordnet werden kann, wenngleich ich mich der genannten Wertung gewiss nicht umfänglich anschließen möchte.
Hier aber nur einige wenige Beispiele: “Sonus paradisi”, “The King of All Virtual Instruments”, "Sample set developers and their mission", "oasis of peace", "the new incarnation of St. Anne's", "You did the magic again!", “must be appreciated and praised”, "you can nearly drown in the ethereal reverb of this set", "First of all I like to thank You for Your work ... Thank you for sharing this with the world", "thank you so much for creating this magnificent virtual organ. ... Thank you so much for bringing this instrument to us”, "Ten years ago it was metaphysicly impossible to even dream in playing a … like this at home" oder “I just hope he is not being kept too far away from his adoring public!” (gemeint ist hier Martin Dyde; Anm. d. Verf.).
Zudem mag eine sich eilfertig anempfehlende Hauptwerkkonzert-Jüngerschaft à la "What do I have to do to play a concert at that organ?" zumindest von Ferne an “Good Teacher, what must I do to inherit eternal life?” (Lk 18,18) erinnern. Dass ein Marktbeteiligter von "Gurus" sprach, wurde bereits erwähnt.
Zu guter Letzt ein sehr explizites Beispiel: „Adam and Eve in the Biblical story were given the freedom to choose, and this freedom, even if it leads to the wrong choice must be preserved. You cannot interfere there. To force someone to choose is to fundamentally deny them the very God-given right to choose freely. I hate living in that kind of world where I can no longer choose. ... I think I said my peace. Viva Hauptwerk!“
Ich folgere: Religiös-verbrämende Sprache ist in Hauptwerk-Kreisen augenscheinlich üblich und immer wieder auffindbar.
9. Religionsphänomenologisches und Salutogenese
"Das Maß aller Dinge steht in der Kirche! (...) Dort habe ich die echte Akustik und das Spüren des Raumes und irgendwo auch das Verspüren der Heiligkeit des Ortes", schrieb jemand, der um die feinen Unterschiede weiß. Er macht mit seinen Worten auf Sehnsüchte aufmerksam, die in Verbindung mit dem Instrument Orgel aufkeimen, auch wenn im Christentum das Thema eines heiligen Ortes doch sehr problematisch ist und es eher archaischen Religionen zugeordnet werden muss.
So erschwert ein Alleinstellungsmerkmal von Hauptwerk den nüchternen und pragmatischen Umgang mit der Software ungemein: Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich jeder Anwender mit der Software ein reales Gesamt-Instrument aus einem als heilig wahrgenommenen Raum in die profanen heimischen vier Wände mitsamt seiner singulären Aura elektroakustisch projizieren möchte, wird es etwas bewusster: Religionsphänomenologisch gesprochen wird diese Orgel resp. der Spieltisch dann zum sakrosankten Hausaltar (man schaue sich nur die äußerst vielfältigen, ja durchaus rührigen Gestaltungen an), weshalb z.B. ein im Prospekt angebrachtes Kreuz die innerpsychischen und salutogenetischen Sehnsüchte und Hoffnungen - vor denen ich durchaus großen Respekt habe! - visualisieren kann und zuweilen als Ideal gewertet wird („Het ideale Hauptwerk orgel“). Nur, und dieser Einwand sei bitte erlaubt: Lassen sich derlei Sehnsüchte via Hauptwerk wirklich befriedigen? Ich bezweifle das sehr. In vielen Fällen dürfte dieses auch auf manche Nutzer von Digitalorgeln zutreffen, wenngleich diese genannte elektronische Orgelkonzeption als Kompositum von Orgel-Klängen oftmals ein grundsätzlich anderes Muster repräsentiert.
Apropos Salutogenese sei hier das mehrmalige(!) Bekunden eines bekannten und sehr ambitionierten Hauptwerk-Users angesichts eines neuen PC-Orgelklanges genannt, der "kilometerweites Grinsen" und ein "Gefühl der tiefsten Zufriedenheit und des Glücks" wahrnahm, das durch seinen Körper fließe. Die organisch-biologisch determinierbaren Assoziationen, die sich mir hier beim Lesen dieses Zitates mitunter aufdrängten, werde ich an dieser Stelle per definitionem nicht niederschreiben.
Ich weiß durchaus, dass derartige Analysen für Hauptwerk-Leser, die sich noch nie mit derlei Dingen (und sie sind hier lediglich angedeutet!) zu beschäftigen hatten, befremdlich wirken können. In der Regel wird mit sog. institutioneller Abwehr reagiert, denn in Haupwerk-Kreisen ist das Bildungsniveau gewiss nicht per se höher als in anderen Liebhaberzirkeln, allerdings bis auf den Umstand, dass hier der Dünkel recht durchdekliniert zu sein scheint.
10. Sancta Simplicitas & Co.
Szene Weihnachtsgeschäft: Ein neues Hauptwerk-Produkt kommt eine Woche vor dem ersten Advent auf den Markt. Es kostet fast 650 Euro, später über 700 Euro. Einige Hörbeispiele sind lediglich verfügbar, ein Demo-Set ist nicht vorhanden und wird für die Zeit nach Weihnachten in Aussicht gestellt. Eine Rückgabe des Sets ist - wie grundsätzlich üblich - keineswegs möglich. Wer vor dem Kauf wissen möchte, welche Register denn wirklich mit dem Tremulanten aufgenommen wurden, also ohne das überaus synthetisch klingende Hauptwerk-Physical modeling zu hören sind, muss sich offenbar mit der sehr sparsamen Angabe „many ranks“ in der Produktbeschreibung begnügen, ebenso sind die sehr wichtigen RAM-Angaben zum Set (wie wohl so oft) durchaus ungenau und lückenhaft. Bereits nach eineinhalb Tagen hat der Hersteller lt. eigenem Bekunden 20 Sets per Download verkauft, denn die DVDs sind zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht verfügbar. Die technischen Informationen zu Hauptwerk-Orgelsets beschränken sich auf auffällig wenige Standards, die erstaunlicherweise akzeptiert werden.
Eine weitere Szene: Ein hochbetagter User aus Übersee musste offensichtlich für den Rest seiner Tage ohne Kreditkarte auskommen, nachdem seine Frau bemerkt hatte, wie viel Geld ihr Mann dem Hauptwerk-Spaß in maßloser Weise opferte. Die Gemahlin hatte ihm die Karte schlichtweg weggenommen, um die finanzielle Sicherheit beider zu retten.
In der Regel wirken Hauptwerk-Nutzer wie zu großem Dank verpflichtete Empfänger teurer Produkte innerhalb einer asymmetrischen Kommunikation. Der Dank gilt jeweils den Betreibern oder den Sampleset-Herstellern. Diese Grundhaltung wird immer wieder explizit und verklärend zelebriert. Insbesondere bezüglich Martin Dydes mag sich diese Grundhaltung zwischenzeitig mit nahezu hagiographischen Elementen gepaart haben. Über Dyde sind ebenso wie über Milan nur äußerst wenige Fakten bekannt. Ein Foto wird man im Falle Dydes vergebens suchen. In Hauptwerk-Kreisen teilt man offensichtlich die Meinung, Martin Dyde widme sich beruflich ganz allein seiner Orgel-Software.
Es fällt mir auf, dass erwachsene und gestandene Männer (Hauptwerk-Frauen: weitestgehende Fehlanzeige!) nicht gerne nach dem Kauf teurer Produkte darauf hingewiesen werden, entweder Mängel erst gar nicht zu bemerken oder sich z.B. Mangelbeseitigungen zum Teil vielleicht gar erflehen zu müssen, obwohl sie sich diese groteske Subordination und Umkehrung der Bringeschuld außerhalb ihres Nischen-Hobbys wahrscheinlich in keinem Discounter bieten lassen würden. Wer mag schon gerne sein teures Steckenpferd kritisieren lassen und hören, dass die jeweils abgebildeten Orgelmodell-Klänge auch hinterfragt werden können und vielleicht - nach den ersten High- und Flow-Wochen - doch nicht immer so obergärig sind, auch wenn man herstellerseitig wohl mit dem exklusiven "Marketing-Dünkel" (Zitat) allerbeste Realitätsabbildungen und bei höchsten Preisen oberste technische Qualität und vielleicht zugleich grundsätzliche Mangelfreiheit glauben machen wollte?
Verschiedene Hersteller sind ebenso irritiert, ja deutlich cholerisch, wenn man an ihren Produkten etwas auszusetzen hat. Im Bereich Hauptwerk ist das vermutlich in einem starken Übermaße der Fall. So schienen mir die Wahrnehmungsebenen sehr vieler Beteiligter im Laufe der Zeit durch eine intellektuelle Disparität gekennzeichnet, was sich m.E. in beachtlich devot-sekundierender und zuweilen wadenbeißiger, ja auch immer wieder sehr vulgärer Foren-Äußerung deutlichst erwiesen hat. Mon Dieu, was muss man sich da nicht alles an durch Hersteller lanciert wirkenden Einlassungen vergegenwärtigen! Insider wissen, wie derlei Foren-Diskurse durch Strohmänner per E-Mail gesteuert werden. Reflektiert-kritischere Zeitgenossen findet man in dieser Szene - zumindest über einen längeren Zeitraum hin - wohl nur sehr wenige.
Die Software Hauptwerk kann allem Anschein nach erst ab der vergleichsweisen Investition eines neuen Kraftfahrzeugs der deutschen Kompaktklasse insgesamt klanglich und haptisch wirklich befriedigend genutzt werden, wenn man nicht bereits eine MIDI-fähige Digitalorgel als akzeptablen Spieltisch besitzt. Eine fünfstellige Summe scheint in jedem Fall erforderlich zu sein. Grundsätzlich wird Hauptwerk damit auch eher zu einer Art musischen Spielobjekts für Männer in der zweiten Lebenshälfte mit mehr bis reichlich Taschengeld (wie ich es bereits vor längerer Zeit einmal formulierte). Der Investitionsspielraum ist nach oben hin offen.
Ein Kritiker bezeichnete Hauptwerk folglich als "Geldfresser", da man doch stets verbesserungswürdige Perspektiven des modularen Systems entdecken wird. So kann Hauptwerk – gepaart mit einem recht plakativen und nahezu snobistischen Kulturhabitus – aber auch als kostspieliges Prestige-Vehikel der Superlative dienen, mit dem man sich eifrig um die Anerkennung der Organistenszene oder dem Applaus aus dem eigenem Umfeld bemüht. Selbstverständlich wird auch ein derartiger Gesellschaftsspaß von den Hauptwerk-Handelstreibenden instrumentalisiert und in den Markt wirksam miteingebunden.
Eine weitere und vielleicht „recht intelligente“ Hauptwerk-Nutzung soll allerdings diejenige des kommerziellen Arrangements darstellen.
11. Drei Thesen zur Frage: „Akustischer Photoshop“ als völlig falsches Medium? 12. Die Dilemmata der ausgeliehenen Klänge und die Illusion gestrenger Lizenzen 13. Hauptwerk-AGB-Satire à la „Und das war's dann halt“? 14. Zurück zur OrganArt Media-Abmahnung: Sturm im Wasserglas?