Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601





Stationen eines konstruktiven Entscheidungsprozesses 

* Alte Zeiten - der Bedarf blieb allerdings * Lizenzen und ein mögliches Pfui Deifi *
Zwei Orgelset-Favoriten - auch aus biographischen Gründen * Abseits von HW 4.2 oder 6: Erste Sondierungen im Diffuse vs. Rear * Späteres Erwachen und der Plan B * Prozentuale Logikfehler * "Georgy" sei - u.a. mit einer entlarvenden Kovarianz - widersprochen * Proportionale  Komplementarität als Chance für Prägnanzqualität

Mein neuer kleiner Tonsatz soll verklanglicht werden. Immer wieder gab es Korrekturen, insbesondere im chromatisch betonten Schlussteil, der dann schlussendlich mit einer Jubilus-Coda endet und alles von Moll zu Dur wendet, was bereits im zweiten Teil mit Add9-Akkorden kurz angedeutet wird. Ein spannender Prozess des Werdens. Ich nenne das Opusculum "Menuett - Instruktive Musik für Orgel oder Klavier". Pedalspiel ist also nicht zwingend erforderlich. Die Faktur des Satzes ist komplex und elementar zugleich: Es soll auf der Orgel sowohl pedaliter als auch manualiter klingen und auf dem Klavier ohnehin. Keine leichte Sache.


Alte Zeiten - der Bedarf blieb allerdings 

Ich erinnere mich gut an die Orgelschülerzeiten, in denen ich sehr gerne Mini-Kompositionen jedweder Art bereitwilligst in Empfang nahm, um meine erworbenen Pedalkünste stolz präsentieren zu können. Mit diesen Werken sollten dann die nächsten Gottesdienste ohne wochenlange Übesessions musikalisch bereichert werden. Die besten davon waren diejenigen aus dem "Orgelbuch für Landorganisten". Dessen Komponisten Emanuel Vogt durfte ich in Windsbach zweimal kennenlernen. Unvergessen. Übrigens erwähnte er dabei, dass er wegen des Terminus "Landorganist" nicht überall auf neue Freunde traf. Ich schätze hingegen diese Bezeichnung, da sie doch recht historisch begründet ist. So sehe ich mich selbst in dieser Tradition des sog. Lehrer-Organisten. Aber das nur nebenbei zur Einordnung und Hintergrundinformation. 

Meine eigentliche Frage ist folgende: Mit welchem Set nehme ich das Machwerk Menuett auf? Mein neuer Mega-PC mit seinen 128 GB RAM macht mir die Entscheidungen auch nicht einfacher, da ich mich über die Frage nach dem passenden Set noch dazu mit der passenden Klangmischung aus Direct, Diffuse und Rear auseinanderzusetzen habe. Große Sets kann ich nun komplett laden. Aus meiner Sammlung geraten nun zunächst folgende Klangbibliotheken in den Blickwinkel:
  • St Mary-le-Bow/Tickell - Lavender Audio
  • Haverhill/Binns - Lavender Audio
  • Billerbeck/Fleiter (Inh. Hilse) - Sonus paradisi
  • Bückeburg/Janke (kostenfreie Version/Diffuse u. Rear) - Sonus paradisi
  • Oakland/Aeolian-Skinner (extended by Jake) - Sonus paradisi
Lizenzen und ein mögliches Pfui Deifi

Diese Sethersteller habe ich mit Bedacht ausgesucht. Erstens können sie eine ganze Menge. Sie haben sich mit Qualität durchgesetzt. Zweitens sind ihre Sets lizenzrechtlich unbedenklich. Mit ihnen kann ich Aufnahmen vornehmen, ohne darum betteln zu müssen. Vor einem Setkauf sollte man sich die Lizenzbedingungen genauestens durchlesen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass andernorts einem enthusiastischen Orgelschüler die Veröffentlichung einer Aufnahme völlig, ja unglaublich arrogant verweigert wurde. Er hatte auf einer Plattform höflichst nachgefragt. Ich bin bis heute sprachlos.

Hingegen erhärtete sich bei mir im Laufe der Jahre - ich beobachte seit 2005 diese Szenerie - der subjektive Eindruck, dass reüssierten Männern eine Tonaufnahme ohne Weiteres gewährt worden wäre. Bessser noch, die Ersuchenden würden sich nach der schnellen Ausbildung an einer Fachhochschule mit weiteren vermeintlichen Titelchen aus dünnem akademischen Garn zu schmücken versuchen. Der O-Ton meiner oberfränkischen Großmutter lautete in derlei Fällen: Pfui Deifi! Ohnehin geht mir der pseudosnobistische Grundton der Hauptwerk-Alphatiere doch etwas auf die Schnürsenkel, aber das nur nebenbei. Also, wir lernen u.a.: AGBs lesen und Willkür vermeiden!

Zwei Orgelset-Favoriten - auch aus biographischen Gründen

Die "zwei B" wären meine Ad-hoc-Favoriten: Billerbeck und Bückeburg. Die beiden technisch weithin untadeligen Sets finde ich aus biographischen Gründen hoch interessant. 1892 wurde meine Heimatkirche St. Pankratius zu Bockum-Hövel (Hamm) ebenso wie der Billerbecker Dom von ein und demselben Architekten, nämlich Wilhelm Rincklake auf den Weg gebracht. Architektonisch ist das sehr gut zu sehen. Leider ließ der Zweite Weltkrieg von diesem Klein-Billerbeck nur den hohen schlanken Turm übrig. Der Kirchbau beherbergte bis zur Zerstörung ebenfalls eine Orgel der Firma Fleiter, deren Produkte im Bistum Münster naheliegenderweise sehr verbreitet waren und sind. Zu Bückeburg pflege ich hingegen eine aktuellere Beziehung: Ein gewisser Luxus vergönnt es mir, in diesem ostwestfälischen Distrikt häufig meine Freizeit verbringen zu dürfen. Ergo: Beide Orte mit ihren realen Orgeln spielen in meinem Leben eine gewachsene Rolle. Mein virtueller Eskapismus besitzt also eine gewisse Bodenständigkeit. Hinzu gesellt sich die Feststellung, dass Entscheidungen (Kauf, Aufnahme etc.) für oder gegen eine Klangbibliothek immer eine Mixtur aus Subjektivem und Rationalem darstellen. Zuweilen wird in mancherlei Foren ein anderer Eindruck zu erwecken versucht.    

Abseits von HW 4.2 oder 6: Erste Sondierungen im Diffuse vs. Rear

Nun gut, das Experimentieren mit HW 6 ist recht zeitäufwändig. Übrigens braucht man auch schon sehr feine Fingerchen, wenn man Befehle per Touch eingeben möchte. Das will mir an meinem 22-Zoll-Monitor (immerhin!) nicht immer gelingen. Also müssen der Touchscreenstift oder dann doch die Maus her. Die Werbesprüche, dass HW 7 da lohnende Verbesserungen böte, halte ich für unzureichend belegt. So kommt mir dieses Upgrade erst einmal nicht ins Haus. Der neue PC hätte ohnehin gar nicht HW 6 haben müssen, witzigerweise riet mir der Händler sogar davon ab. So startet seiner Aussage zufolge HW 6 sogar später als 4.2. Um ein größeres Set verkaufen zu können, ließ ich mich zum Upgrade überreden. Noch wusste ich nicht, dass es ein mittelgroßes Theater mit iLok und dem Samplesetfabrikanten geben sollte. Hätte ich gewusst, dass Sonus paradisi weiterhin 4.2-kompatible und attraktive Sets herausgeben sollte. Nun, das wäre ein Thema für eine weitere Podcastfolge. Zurück zum Recording.

Da ich mich nicht sofort auf die zwei gefühlten Favoriten festlegen möchte, beziehe ich die drei weiteren Set in die Sondierungen mit ein. Zahlreiche Tests ergeben für mich jedoch, dass Haverhill/Binns und Oakland/Skinner ausscheiden. Letztere erscheint mir im Vergleich auch selbst in der aufgemotzten Extendedvariante sehr flach, nahezu eindimensional zu klingen. Vielleicht hat es etwas mit den Mensuren und der Intonation dieser typischen US-amerikanischen Orgel zu tun. Auch die Addition verschiedener Convolution Reverbs verschafft keine Linderung. Der Haverhill verhelfen die Reverbs zu ein wenig mehr Grandeur, aber klanglich bleibt sie mir für das Menuett zu mulmig.

Bleiben also Bückeburg, Billerbeck und London übrig. Eine Qual der Wahl. Im Laufe des Vergleichens ergibt sich, dass mir die Addition von Diffuse und Rear am Spieltisch doch sehr gut gefällt, obwohl ich jahrelang ein Liebhaber des direkten trockenen Sounds war. Tipp: Wer seine Präzision verbessern möchte, übe bitte mit einem kleinen Dry-Orgelset. Ein Cembaloset ist noch schonungsloser.

https://youtu.be/fIiUF-AOW2I

Da im Menuett jazzoide Harmonien (mit Sexten, Septimen und Nonen) vorkommen, gestaltet sich der Klang mit dem Set der Bückeburger Janke-Orgel schwierig, auch wenn die originale Stimmung laut HW-Einstellung zu "Equal" modifiziert worden sein soll. Sorry, es geht einfach nicht. Erweiterte Harmonik und eine historisierende Stimmung, da Hauptwerk darüber hinaus nicht channelübergreifend stimmen kann - wenn ich einen Samplesethersteller richtig verstehe - passen nicht zusammen. Das ist bedauerlich, da doch dieses kostenfreie Set hohe Prägnanzqualität besitzt und den gar nicht einmal so trockenen Raum der Bückeburger Stadtkirche gut abbildet.

Späteres Erwachen und der Plan B

So fertige ich eine weitere Aufnahme mit dem Billerbeck-Set an. Ein Set, an das ich mich zweifelsohne erst gewöhnen musste, da auch die reale Orgel etwas sehr Strenges, ja nahezu Neutrales an Klangkultur besitzt. Zunächst hielt ich es für die Ungnade des Einzeltonsamplings: Jede Pfeife erhält den maximalen Winddruck und kann sich nicht mit den benachbarten Kolleginnen einschwingen. In der Tat ist dieses eine Herausforderung, der sich so mancher Sethersteller ideenreich stellt. Im Falle des Billerbeck-Sets bleibt der Klang jedoch auffallend analytisch.

So verwende ich Diffuse und Rear zu 100 Prozent, den Direct-Channel blende ich vollkommen aus. Es soll ja etwas für den Zuhörer werden. Eine akustische Spieltischatmosphäre ist eher etwas fürs Üben. Das spätere Abhören an anderem Ort und zu anderer Zeit (um die Psychoakustik zu überlisten) gerät jedoch zur Enttäuschung: Diffuse und Rear zu 100 Prozent sind zu wolkig, einfach too much. Am häuslichen Spieltisch fühlte ich einen grandiosen Orgelklang, ein Mittendrin, in der Aufnahme ist's damit vorbei: von einer Fernorgel will ich nicht sprechen, aber zumindest habe ich den Eindruck, dass die Orgel in einem Hallenbad installiert wurde. Eine neblige Wachküche - falls das jemand noch kennt - mag auch als akustische Metapher dienen.

Prozentuale Logikfehler

Offensichtlich muss ich mir neue Strategien einfallen lassen. Fast vermisse ich die Zeiten der Stereo-Sets: Der Hersteller legte die optimale Position fest. Alles war gut. Jedenfalls mehr oder weniger, denn nicht jeder hatte ein gutes Gespür oder hohe Stative für die Aufnahmen in der Nähe des Hallradius. Doch diese Nostalgiegedanken erbringen für mich keinen Fortschritt, es sei denn, ich würde lediglich das mittlere Kanalpaar Diffuse (Ambient) laden.

Erst im Laufe dieser Gedanken wird für mich deutlich: Die willkürliche Mischung von Channels ist unlogisch und widerspricht einer natürlichen Hörposition im Raum. 40 Prozent Direct/Close, 80 Prozent Diffuse/Ambient und 35 Prozent Rear sind ein irreales digitales Konstrukt. Ein sukzessives Wandern zwischen zwei Channelpaaren wäre logischer: 80 Prozent Diffuse und 20 Prozent Rear, 60 Prozent Diffuse und 40 Prozent Rear - und so weiter und so fort. Insofern reichen vier Channel. Ich bezeichne das als proportionale Komplementarität. Reflektierter Gebrauch ist angesagt.

"Georgy" sei - u.a. mit einer entlarvenden Kovarianz - widersprochen

Kommen wir nun zu einem Foren-User, er nennt sich Georgy, schreibt erkennbar anonym, auch wenn er sich manchmal wohl zusätzlich Michael nennt, kennt sich der eigenen Schilderung zufolge sehr gut mit der von ihm favorisierten Multikanal-Abstrahlung aus und erwartet meinem Eindruck zufolge durch eine zuweilen auffällig derbe Diktion ein gerüttelt Maß an zuzuschreibenden Distinktionen.

Wie dem auch sei, Georgy meinte unlängst, dass sich der beabsichtigte Gesamtklang eines Samplesets durch die Addition der Channelklänge generiere. Ich versuche, das zu abstrahieren und bezeichne diese These als additive Komplementärität. In diesem Zusammenhang äußerte er wohl auch seine Vorliebe für Semi-Dry-Samples.

Um mit Thomas Mann zu sprechen: Diese Anschauung teile ich nicht. Ich habe andere Hörerfahrungen gesammelt, denn die addierten Channel-Sounds erbringen insgesamt einen Klang, dem es an Prägnanzqualität zu mangeln scheint. Ich will gerne konstatieren, dass sie zunächst Fülle und Steigerung suggerieren. Insbesondere die Release-Samples lassen den Klang jedoch erheblich unpräziser erscheinen.

Bezüglich der Semi-Dry-Samples kann ich nur feststellen, dass sie den Eindruck eines synthetischen Sounds massiv verstärken. Vielleicht wären sie mit zahlreichen Tricksereien in einer mehrkanaligen Abstrahlung so zu integrieren, dass die Künstlichkeit nicht zu sehr ins Gewicht fällt. Allerdings stellte sich dann die Frage, ob der Aufwand das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewährleistet.

Im Laufe der Jahre musste ich feststellen, dass einem nicht unwesentlichen Anteil schreibender Nutzer profunde Spiel- und Hörerfahrungen am realen Instrument Pfeifenorgel in unterschiedlichen Räumen fehlen. Eine Kovarianz ist durch die weithin fehlenden Veröffentlichungen von Musikaufnahmen vieler Foren-User gegeben; sie allein auf Schüchternheit zurückzuführen, wäre mitnichten glaubhaft.

Von Elektrotechnik und dergleichen mögen manche Foren-Matadoren eine ganze Menge verstehen, spätestens aber, wenn ich mir vergegenwärtige, welche Sets durch sie gehypt oder verrissen werden, wird mir klar: Vom Orgelklang an sich, da haben sie nicht so sehr die Ahnung. Wie sollten sie auch? 

Proportionale Komplementarität als Chance für Prägnanzqualität


Wenn ich mich hier deutlich gegen das verbreitete Fake-Surround ausspreche, dann habe ich zwei gute Partner an meiner Seite: Logik und Klang. Meine derzeitige Arbeitshypothese lautet: Stereo-Channels - im Bereich der Orgelsoftware-Sampler - suggerieren bei unreflektierter Addition Räumlichkeit, verringern allerdings v.a. die Prägnanzqualität erheblich. Wenn ich einen realen Sound generieren möchte, muss ich Stereo-Channels komplementär verstehen, und zwar nicht additiv, sondern proportional.

Konkret bedeutet das: Ich setze zwei Stereopaare voraus und diese beiden dürfen insgesamt 100 Prozent Klanganteil besitzen. Noch konkreter: Zu 75 Prozent Diffuse (oder Direct) passen beispielsweise 25 Prozent Rear. Auf diese Weise ist ein realer Sound gegeben, mit dem ich virtuell durch das Kirchenschiff zu wandern vermag.

Beliebige sechs- oder gar achtkanalige Mischungen ergeben hingegen ein wildes Surround, das keiner realen Hörposition entsprechen kann. Sie sind ein marketingträchtiges Fake. Im YouTube-Clip ist übrigens eine reale Hörposition zu hören. Viel Vergnügen!  (mpk) 

                                                                                                                                                 

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