Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601The secret chord - Nicht nur zur Weihnachtszeit
Vielerorts
wird ein quasi monokausal-linearer Wirkmechanismus des verminderten
Akkords Dm7b5 vor der Folie weihnachtlicher Gemütslagen diskutiert. Die
Hinweise stammen aus dem anglo-amerikanischen Raume und fokussieren eher
säkulare Mainstream-Weihnachtslieder des 20. Jahrhunderts, die man dem
frühen Pop-Genre zuordnen kann. Dabei schreibt man diesem Akkord zuweilen einen Zauber zu, der an Druidengetränke und deren
Geheimrezepturen erinnert.
Harmonie als neue Kaffeesorte des Feuilletons
Auch dem
deutschen und wohl zugleich fachfremden Feuilleton ist diese Bewandtnis ein besonderes
Anliegen. Die Zeit, ja genau diese macht's möglich. Und so ist dort tatsächlich die
Diktion, dass Dm7b5 "nach einem etwas dominanteren Akkord" gesetzt
werde, zu finden. Derart schnell kann das geschulte Personal die
Dominanz der Dominante den dominierenden Synapsen unterordnen, ohne es
so recht zu bemerken. Die im weiteren Feuilletontext genutzte und arg
innovative
Berufsbezeichnung "Musiktheorist" würde diese Annahme zumindest stark erhärten.
Wir lernen: Der Akkord wird einerseits als letztlich
unergründliche Geheimrezeptur erahnt, zumal man das Phänomen Harmonie
augenscheinlich für eine neue Kaffeesorte hält. Andererseits wird
attestiert, dass alles vielleicht doch komplexer ist. Tempo und
Dur-Moll-Wechsel sollen schließlich auch noch für das Weihnachtstriggern
verantwortlich sein. Die richtige Kombination aus mehreren Stilen und
Spielarten würden den erfolgreichen Christmas-Song auf den Weg bringen.
Mit anderen Worten: Das Rezept existiere, aber es werde nicht verraten.
Zirkuläres und Konstruktives
Wie
so oft im Leben ist jedoch alles noch etwas zirkulärer, als man auch
nach längerem Nachdenken zuzugeben bereit war. Und so versuchen wir die
Hinweise zu ordnen und konstruktiv in weitere Zusammenhänge einzuordnen.
Ja, in etwa so:
1. Genaueres gibt es hier zu sehen und zu hören: https://www.youtube.com/watch?time_continue=176&v=xm4LO22-cyY (insb. ab 2:56 - Adam Ragusea - vox.com).
2. Dieses Harmonieschema ist wahrzunehmen: C - C7(+) - F - Dm7b5 - C
3.
Die harmonische Wendung hat etwas. Von eindrücklich bis kitschig
kristallisieren sich hier tongewordene Gefühle in kontextualer Hinsicht. Ohne Zweifel.
4. Vielleicht wäre der insinuierte "Christmas jazzy sound" im Zeitalter von
Inkulturation, Integration und Inklusion auch im engeren Sinne christlich einzubinden und in weiteren Festkreisen zu nutzen, um eine
Verdichtung des Emotionalen, z.B. auch zu Ostern oder Pfingsten zu
erzielen. Seine Liturgizität muss ohnehin nicht diskutiert werden, Musik besäße hier parakatechetischen Charakter.
5.
Selbstverständlich sollte man die Tipps nicht einer methodischen
Engführung im Sinne von Ausschließlichkeit zuordnen. Diese Gefahr wird
in diesem Clip überaus verdeutlicht: https://youtu.be/phyRNpguLAE. Es bezieht sich mittelbar auf das Video https://youtu.be/V5WfgMVtueo von Adam Neely, das eine Replik auf die Thesen von Adam Ragusea bei vox.com darstellt. Neely betont tendenziell die Komplexität der musikalischen Fakturen.
6.
Wie gesagt: Wir haben es hier nicht mit einem Geheimrezept, sondern mit
einem Gefäß im gut sortierten Gewürzregal zu tun und empfehlen es ganzjährig oder gar als
Ganzjahresreifen, um mal einen harten Metapherwechsel ganz und gar im
Sinne des vermutlich ansprüchlichen Feuilletons nicht zu vermeiden. (Letzteres lediglich für den humortalentösen Leser!)
Musikwissenschaft mit systemisch ungeklärten Triggern
Folgende Vermutung bleibt schlussendlich festzuhalten: Vielleicht gibt
es in der Musikwissenschaft - oder in deren Anmutungen - trotz penibler analytischer
Systematisierungen doch noch Kausalitäten, deren Wirkmächtigkeit auch mit Hilfe von profunden "Musiktheoristen" sich nie ganz klären lässt. Genie und Intuition ergänzen Druidengetränke und deren
Geheimrezepturen in komplementärer Weise. Auch die Gänsehaut eines Rezipienten der Bachschen Matthäuspassion bleibt letztlich wissenschaftlich ebenso undurchdrungen wie ein verstandenes Ich-liebe-Dich. (16.12.2018 - mpk)