Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
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Vorwort
Ein herzlicher Dank gilt Herrn Dr. Dr. David Backus, der den folgenden Aufsatz diesem Online-Journal zur Verfügung stellte. Der Artikel erschien zunächst in der Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft der Orgelfreunde und evozierte eine überaus lebhafte Diskussion (Ars Organi, 57. Jhg., Heft 3/September 2009).
In diesem Zusammenhang darf zudem auf die Worte des Wiesbadener Kirchenmusikers Gabriel Dessauer zur historisch informierten Aufführungspraxis hingewiesen werden, die hier zu finden sind. Wie man sich auch immer hinsichtlich seiner eigenen Musizierpraxis entscheiden mag: Die Ausführungen zur sog. Weichschuhtechnik bieten die profunde Chance, ein weiteres Reflektieren anzustoßen und zu integrieren.
Bei aller Dialektik mag man sich gewiss doch stets in der Schnittmenge einfinden, die mit den Worten des Düsseldorfer Musikers und Komponisten Dieter Falk umschrieben werden kann; dieser sieht nämlich Johann Sebastian Bach als Synonym für Tempo, Groove und Raffinesse oder Seele, Tiefe und Melancholie. (mpk) ____________________________________________________________
David Backus und Gudrun Kopf
Bediente sich Bach einer 'Weichschuh-Technik'?
Unter den lehrenden und spielenden Orgelprofis gilt es heute wenn nicht direkt als Dogma, dann aber mindestens als Konsens, dass das Orgelpedalspiel im Barock ein Spiel mit alternierenden Fußspitzen gewesen und daher diese Technik als die allein richtige für Bachsche Orgelliteratur zu wählen sei. Dafür sind die wichtigsten Begründungen:
1) Diese Spielweise und die dadurch angeblich erzielte Artikulation ist historisch und gehört deswegen von Haus aus zur originalen Aufführungspraxis. (Anm. 1)
2) Diese Spielweise ist auf allen Pedalklaviaturen, ob alt, neu historisierend, kurz, lang, französisch, deutsch, deutsch-romantisch usw. möglich und deshalb auch praktisch.
3) Die moderne Spielweise (sog. Dupré-/Germani-Technik) gilt als Legatohilfsmittel, deren Wirkung für ältere Musik unpräzise, stümperhaft und deshalb unseriös
erscheint.
4) Der reisende Konzertspieler (den es in der Barockzeit nicht gab), passt sich bekanntlich schneller und besser an, wenn er auf modernes Absatzspiel verzichtet.
Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass ,pedalgerecht‘ für den Komponisten und Orgelspieler Bach eigentlich ,spielbar mit alternierenden Füßen‘ bedeutete; die Diskussion darüber ist oft mühsam, unnötig und widersprüchlich (Anm. 2) oder bezieht sich nicht konsequent genug auf diejenigen Problemstellen, an denen streng alternierendes Spitzenspiel an seine Grenzen stößt. (Anm. 3)
Alte Quellen sprechen über die Pedaltechnik in Deutschland nur selten und das auch recht spät. Bachs Schüler Johann Christian Kittel (er war nur 18 Jahre alt, als Bach starb; und er war kein so wichtiger Kopist, dafür ein treuer Handschriften-Sammler) schrieb erst 1803 (Anm. 4), Türk im Jahre 1787 (Anm. 5) und Petri 1789 (Anm. 6) vom Pedalspiel mit Spitze und Absatz. Türk spricht nur einmal (vielleicht nur einmal, um Wiederholungen zu vermeiden?) vom Spielen „mit den Zehen und mit der Ferse“. Im Grunde unterstellen alle drei einen Schuh mit Absatz. Kittel bevorzugt allerdings das Spiel ausschließlich mit den Spitzen als modern und korrekt; er fürchtet um die Pedalklaviatur, falls man mit den Absätzen zu brutal spiele … Wenn man es dennoch riskieren wolle, empfiehlt er ziemlich hohe Absätze. (Anm. 7)
Natürlich haben Kittel, Petri und Türk nicht über Bachsche Werke geschrieben, sondern eher für bescheidene Kirchenorganisten, deren Status korrespondierend mit ihren Spielfertigkeiten zu jener Zeit tiefer und tiefer sank.
Für uns ist es wichtig, dass bis in die Barockzeit in Europa Schuhe generell absatzlos waren. Viele trugen im Alltag den flachen ,Kuhmaulschuh‘ in verschiedensten Ausformungen: Manchmal war es nur eine Art Ledersocke oder Pantoffel, manchmal war die Sohle etwas verstärkt. Rechte und linke Schuhe wurden auf demselben Leisten gearbeitet, Damenschuhe waren feiner im Material, aber immer flach. Flach waren auch die schönen Schnabelschuhe der Adligen, ebenso wie die feinen Tanzschuhe, deren dünne Sohlen man in einer Nacht ,durchtanzen‘ konnte.
Herrenschuh des 16. Jahrhunderts: Sogenannter ,Hornschuh‘, Spitze mit hornförmiger Ausbuchtung. Die schon relativ kräftige Sohle unter dem Hacken verstärkt, was aber noch nicht als Absatz anzusprechen ist. Um 1550. Aus: Deutsches Ledermuseum Offenbach a. M., Katalog Heft 6: Deutsches Schuhmuseum, Nr. 6.11.16.
In diese Mode- und Schuhwelt schoben sich in der Zeit von Ludwig XIV. (1638–1715) aus Frankreich die ersten Absätze, oft in extravaganter und übertriebener Form. Stark dekorierte Luxusmodelle breiteten sich zuerst bei Hofe, später im gehobenen Bürgertum aus. Die Absätze fanden innerhalb eines Jahrhunderts ihren Weg bis an die Alltagsschuhe der Männer und Frauen; dort sahen sie allerdings recht gezähmt aus. Auch damals waren viele edle Damenschuhe und natürlich auch Hausschuhe noch absatzlos. In der Zeit Bachs waren flache, absatzlose Schuhe durchaus verfügbar und üblich.
Herrenschuh des 18. Jahrhunderts: Schnallenschuh (Schnalle fehlt). Gerader, einfacher, 3 cm hoher Absatz. Um 1750. Aus: Deutsches Ledermuseum Offenbach a. M., Katalog Heft 6: Deutsches Schuhmuseum, Nr. 6.14.10. Tafel 52.
Bildliche Darstellungen aus der Zeit von Organisten am Arbeitsplatz gibt es äußerst spärlich. In Arnolt Schlicks Spiegel (Anm. 8) von 1511 zeigt das Frontispiz die flachen Schuhe, von denen wir sprechen, sie finden sich ebenso mehr als
200 Jahre später, im ausgehenden Barock, in Le Facteur des Orgues von Dom Bedos (Anm. 9): eine nette historische Einrahmung; in beiden Fällen handelt es sich nicht um Pedalklaviaturen im späteren und heutigen Sinn.
Die klobige Prothese, die wir Absatz nennen, tauchte erst später in der Alltagskleidung auf und führte also erst dann zu den Spielproblemen bei eher bürgerlichen Organisten.
Der unbekleidete Fuß bietet von Natur aus drei Ansatzpunkte, die sowohl Energie als auch Bewegung, also direkte Impulse aus den Knochen und Muskeln des Unterschenkels mit enormer Genauigkeit weitergeben können: die Ferse
(Fersenbein), der Ballen (Wurzel der großen Zehe) und – schwächer in der Ausprägung – der äußere Ballen (Wurzel der kleinen Zehe).
Sobald ein Schuh mit Absatz zum Einsatz kommt, ist die Ferse als genaues Spielwerkzeug quasi ,gelähmt‘ – eine zu dicke oder zu steife Schuhsohle bewirkt Ähnliches bei den anderen beiden ,Impulspunkten‘.
Für den frei agierenden, ,prothesefreien‘ Fuß sind Ballen und Ferse ansatzweise völlig gleichwertig; links und rechts abzuwechseln braucht weniger Bewegung und ist deshalb sicherer. Der freie Gebrauch einer prothesefreien Ferse ist ergonomisch gesehen ein sparsames Mittel zum ruhigen, akkuraten und virtuosen Pedalspiel – genau das war es, was Bachs eigenes Spiel charakterisierte. (Anm. 10)
Die Verfügbarkeit von weichen, absatzlosen Schuhen, der Schwierigkeitsgrad von Bachs Pedaltexten, die allgemeine Bewunderung von Bachs Orgel(pedal)spiel – alles
weist darauf hin, dass Bach (und sicherlich auch die, die seine Orgelmusik spielen konnten, z.B. Altnikol, Krebs und W. F. Bach) eine viel ausgefeiltere Technik hatte als die damaligen Durchschnittsorganisten. Eine Technik, deren kühner Ferseneinsatz in weichen Alltagsschuhen praktiziert wird genau wie der Daumeneinsatz auf den Manualen, wie es die Natur „gleichsam gebraucht wissen will“ (C. P. E. Bach über seinen Vater). (Anm. 11)
Bachs Daumeneinsatz machte den Weg frei zur modernen Klavier- und Orgeltechnik, die alte Weichschuhtechnik mit gelegentlichem Ferseneinsatz dagegen geriet in eine Sackgasse: Das Orgelspiel an sich verlor an Stellenwert, Schuhabsätze fanden ihren Weg in die Alltagsfußbekleidung. Dazu verlor die Orgelmusik von polyphonem Satzbau mit anspruchsvollen Pedalstimmen im Wettbewerb
mit der ,galanten‘ Musik fast vollständig ihre Bedeutung; C. P. E.Bach ,vergaß‘ den Gebrauch des Orgelpedals nahezu vollständig.
Kein Brückenschlag verbindet die alte Weichschuhtechnik, die ich bei J. S. Bach und anderen Virtuosen seines Ranges vermute, mit der modernen Absatztechnik.
Die alte Technik ließ alle Artikulationsmöglichkeiten mit allen Kombinationen offen. Sicherlich wurde zu jener Zeit viel mit einem Fuß schnell und genau gesprungen, und die Möglichkeit, immer eine Ferse einzusetzen, erlaubte es, mit beiden Füßen relativ weit vorne zu bleiben und sich wenig bewegen zu müssen. Auf einer Silbermann- oder Hildebrandt-Klaviatur (wie auch auf allen modernen Klaviaturen)
ist die Weichschuhtechnik einfach das ,non plus ultra‘.
Heute kommen die wenigen, die ganz ohne Schuhe spielen, recht nah an diese ,historische‘ Technik heran; ein Tanzschuh mit weicher, chromlederner Sohle, von der man den Absatz entfernt und das Chromleder einfach weiter nach hinten erweitert hat, kommt an die alten Schuhe heran. So fühlt man die Ventile bei einer guten Traktur und spielt locker und brillant.
Organisten waren bis 1750 eine Zunft, und übers Handwerk brauchte man „außerhalb“ weder zu sprechen noch zu schreiben. Über das Pedalspiel palaverte man erst später, als die Zunft und die alte Welt – Bachs Welt – längst gestorben war. Jeder Bach-Kenner und -Spieler kennt die vielen Stellen, wo weder die „Orgelbewegungs“-Technik (relativ feste Schuhe, Spiel nur mit Spitze) noch die Dupré-/Germani-Technik (relativ weiche Schuhe, aber mit oft hohen Absätzen fürs Legatospiel) dazu ausreichen, um „jedes Thema, jeden Gang, ihren Vorgängern den Händen auf das Genaueste nach machen. Kein Vorschlag, kein Mordent, kein Pralltriller durfte fehlen oder nur weniger nett und rund zum Gehör kommen“. (Anm. 12)
Etwas mehr wird denn doch verlangt zum Beispiel für BWV 532, BWV 564, für die Doppel-Pedal-Choralvorspiele und manches mehr – die Weichschuhtechnik, bei der
Fersen und Ballen frei eingesetzt werden, „wie es die Natur gleichsam gebraucht wissen will“ (C. Ph. E. Bach).
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Anmerkungen:
1 Z.B. Ewald Kooiman, Zur Interpretation der Orgelwerke Johann Sebastian Bachs. Kassel 1995, S. 79f., S. 85. 2 Vgl. z.B. Christoph Albrecht, Interpretationsfragen, Probleme der kirchenmusikalischen Aufführungspraxis von Johann Walter bis Max Reger (1524 · 1916). Berlin 1981, S. 204–206, S. 263. 3 Vgl. Kooiman (wie Anm. 1) und Lorenzo Ghielmi, Zur Interpretation der Orgelmusik von Nicolaus Bruhns. Bergamo 2007, S. 41–43. <> Ghielmis Beispiele – BWV 566 und BuxWV 137, zu denen man BWV 552/1, 543/2 und 540/1 und andere hinzufügen könnte – zeigen nicht eindeutige Problemstellen, sondern eher die Stellen, die Bach selbst oder Buxtehude oder ihre Kopisten schon geglättet hatten. Das haben sie allerdings nicht immer getan. 4 Johann Christian Kittel, Vierstimmige Choräle mit Vorspielen zum allgemeinen sowohl als zum besonderen Gebrauch für die Schleswig- Hollsteinischen [sic] Kirchen gesetzt. Altona 1803. <> Kittel (1732– 1809) kannte Bach wohl weniger als den Orgelvirtuosen und mehr als Kompositionslehrer. Er kopierte BWV 933–938, also einfache Stücke. Kittel war später Erfurter Stadtorganist und ein wichtiger Sammler von Handschriften seines verehrten Lehrers. 5 Daniel Gottlob Türk, Von den wichtigsten Pflichten eines Organisten. Halle 1787. Faksimile-Neudruck, hrsg. mit einem Nachwort von Bernhard Billeter, Hilversum 1966. 6 Johann Samuel Petri, Anleitung zur praktischen Musik. Leipzig 1782. 7 Kittel spricht vom Spiel mit alternierenden Spitzen und Absätzen als der älteren Technik, links von C bis c°, rechts bis nach oben. Eine solche
wäre für keine Literatur geeignet; aber die Idee, das Absatzspiel sei älter, scheint uns zuerst rätselhaft, „befremdlich“ sagt Kooiman (wie Anm. 1). 8 Arnolt Schlick, Spiegel der Orgelmacher und Organisten. Mainz 1511. <> Schlick fordert im dritten Kapitel eine Pedalklaviatur, die lang genug sein muss für alternierende und sich gelegentlich kreuzende
Füße, und eng genug, um das Spiel von zwei Stimmen mit einem Fuß zu erlauben: die früheste Beschreibung der ,Weichschuh-technik‘. Absätze gab es um das Jahr 1500 überhaupt nicht. Schlick will auch deshalb die Halbtontasten nicht zu hoch und kantig haben. Mit der ,Weichschuhtechnik‘ (zwei Ballen, zwei Fersen) war gewiss auf solchen Pedalklaviaturen von maximal 18 Tönen ein vierstimmiges Spiel prinzipiell möglich. 9 Dom Bedos, Die Kunst des Orgelbauers (L’art du facteur d’orgues), deutsche Übersetzung, hrsg. v. Richard Rensch. Lauffen 1977, Bd. II, Tafel 52 10 Z.B. Christian Friedrich Daniel Schubart, Aesthetik der Tonkunst. Wien 1806; Konstantin Bellermann, Programme in quo Parnassus
Musarum. Erfurt 1743; Johann Philipp Kirnberger in: Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste. 2 Bde., Leipzig 1771 und 1774; und Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge. 2 Tle., Berlin 1753 und 1754. 11 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Berlin 1753. 12 Ernst Ludwig Gerber, Historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler. Leipzig 1790–1792. Vgl. auch Marpurg, Abhandlung von der Fuge (wie Anm. 11), über die Spielbarkeit von Bachschen Pedaltexten.
<> Im Allgemeinen ist zu bemerken: Je intimer die Akustik, desto weniger zufriedenstellend ist das reine Spitzenspiel. In großen gotischen Domkirchen muss man – besonders im Pedal – sehr scharf artikulieren und darf nicht übermäßig schnell spielen – gute Voraussetzungen
für die bewegungsvergeudende Spitzentechnik. In kleineren Räumlichkeiten wirklich ,kantabel‘ und musikalisch zu spielen, wie Gerber Bachs Spiel beschreibt, ist schwieriger.
Vgl. zum Thema auch: Martin Blindow, Die Pedaltechnik des 18. Jahrhunderts. In: Der Kirchenmusiker 1995 H. 1, S. 4-14 (Hinweis von Prof. Dr. Matthias Schneider).