Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
Nahezu pure Grandezza - Rezension der CD Cameron Carpenters "All You Need Is Bach" - CC & Digitalorgel - Über die Angstreflexe der Orgelszene - Gedanken zu Cameron Carpenters neuer CD/DVD "If you could read my mind": Es amüsiert mich immer wieder, wie Taylor Cameron Carpenter in der weithin unbeliebten und überaus philiströsen Orgelszene rezipiert wird. Erst kürzlich, als er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vor einer erlauchten und sich weihnachtlich tümelnden Gemeinde nebst Bundespräsidenten seine ganz eigene Version zu "Vom Himmel hoch" auf einer historischen Orgel zum Besten gab, schrieb ein anonymer Poster in einem ob seiner Ansprüchlichkeit umstrittenenen Orgelforum: "Das Büblein stampft und hacket mit ... mehr Cameron Carpenter – ein Scharlatan 'weiblichen Typs'? Ein paar subjektive Bemerkungen zu Prof. Ulrich Walthers Sichtweise auf einen US-amerikanischen Ausnahmeorganisten (Ulrich Walther: Zwischen Crossover und Kommerzialisierung. Die Orgel im Spannungsfeld fortschreitender kultureller Ökonomisierung – ein Plädoyer für die künstlerische Orgel im 21. Jahrhundert, in: organ - Journal für die Orgel (18 Jg.), Heft ... mehr |
Cameron Carpenter - "ein von der Aussicht auf glory angestachelter Kollege"? Replik auf die CD-Rezension „Showmaster der Orgel – Revolutionary. Cameron Carpenter, Orgel. TELARC CD-80711“ von Prof. Torsten Laux (in: Musik und Kirche. Die Zeitschrift für Kirchenmusik, Sept./Okt. 2010, Nr. 5)
Szene 1: An der Kasse des Dortmunder Konzerthauses möchte jemand Karten für das zwei Monate später stattfindende Orgelkonzert mit Cameron Carpenter erwerben. "Ist das Konzert bereits ausverkauft?", fragt er etwas verunsichert angesichts einer recht bunten digitalen Sitzplatzanzeige. Die Dame an der Kasse antwortet stoisch: "Orgelkonzerte sind bei uns nie ausverkauft." Sie hält einen Moment konzentriert inne und sagt daraufhin: "Aber bei diesem Organisten ist das irgendwie anders." Sie weist den Kunden auf die wenigen noch freien Plätze hin. Nach dem Konzert äußert sich der Sprecher des Hauses vor der Presse mit den Worten "das bestverkaufte Orgelkonzert jemals". Und in der Tat, das Konzert wird von einem auffällig altersgemischten Publikum besucht. Unter anderem sind Familien, Jugendliche und Interessierte abseits der ansonsten üblichen altbackenen Kennerszene zu sehen. In summa lassen sich mehr als 1100 Personen zählen.
Szene 2: Professor Torsten Laux betrachtet das Phänomen CC zu Beginn seiner Rezension in der renommierten Fachzeitschrift "Musik und Kirche" folgendermaßen: “Cameron Carpenter is a Superstar of the twenty-first century organ … a born show-man” hieß es 2008 im Departures Magazines. Das passt – hier ist alles pure Selbstdarstellung: Die Wahl des Instrumentes (eine elektronische „Riesenorgel“ ohne Pfeifen), die Werkauswahl (Transkriptionen und Bearbeitungen populärer und virtuoser Stücke, eigene Kompositionen), der auf sinnfreie Effekte ausgerichtete Interpretationsstil und nicht zuletzt das ausschließlich englischsprachige Booklet, das den jungen Künstler ... zum Popstar stilisiert, dessen synthetisch erzeugter Ruhm von den USA nun auch zu uns herüberzuschwappen droht.“
Sein schillernder Schlusssatz lautet: "Meine CD-Empfehlung: Kaufen, reinhören, wegstecken."
Psychologisierung ...
Bei aller Wertschätzung für Prof. Torsten Laux - und das ist sehr ernst gemeint - muss hier dieser Einschätzung Carpenters eindeutig widersprochen werden. Man könnte psychologisieren, da es verwundert, welche Ängste Carpenter hervorzurufen vermag: Die in dieser Rezension ungeachtet des Verrisses deutlich gestreuten Ergebenheitsbekundungen zugunsten Carpenters erwecken den Eindruck einer mehr oder weniger reflektierten Faszination. Diese wurde unbewusst und vermutlich durch Ungleichgewichte generiert in ein entwertendes Bild der betrachteten Person projiziert. Wenn Laux dann tatsächlich noch "von diesem aufstrebenden, von der Aussicht auf "glory" angestachelten "Kollegen"" spricht, kann man nicht umhin, das bekannte und erkenntnisleitende Phänomen Neid im Zusammenhang mit fremdbestimmten Anerkennungsbedingungen zu assoziieren. Man bleibt peinlich berührt und kopfschüttelnd nach dem Lesen zurück, zumal es auch grundsätzlich bedenklich wirkt, anhand einer einzigen CD - übrigens wurde Revolutionary in 2009 für den Grammy nominiert - einem Künstler Wertigkeit abzusprechen.
Nur eine CD?
Prof. Laux gibt in seiner Rezension eine Gesamtwertung über Carpenter ab. Hätte er sich vor der Niederschrift nicht noch weitere CDs anhören oder gar eines seiner Konzerte besuchen sollen? Er wäre vielleicht zu dem Urteil gekommen: Mensch, das ist wahrlich dichte und vitale Musik! Die Rezeption seines Albums "Cameron LIVE!" (incl. DVD) hätte bereits eine gute Möglichkeit dargestellt.
Respekt durch die semantischen Knopflöcher
Schauen wir uns aber lieber die Details an: Laux zollt dem Amerikaner Carpenter, dem Sohn eines amerikanischen Ofenbauers, der im Geschäftslokal bereits als kleines Kind auf einer Hammondorgel aus den 30-er Jahren zu Hammerschlägen der Mitarbeiter Bach und Buxtehude übte, immer wieder Respekt und vergibt Atteste wie "kompromissloser Musiker" oder "unermüdliche Power" zum Besten. Noten wie "was man anerkennen muss", "umso verdienstvoller", "wirklich erstaunlich", "hat mich ... überzeugt" und "beeindruckend" sprechen für sich. Lauxens Faszination für das Phänomen Carpenter quillt ihm sozusagen durch die semantischen Knopflöcher hindurch, auch wenn er ihn aus folgenden Gründen als Egomanen ohne Botschaft darzustellen versucht:
- 1. Das Instrument sei nicht gut.
- 2. Carpenter sei "fast völlig frei von kirchenmusikalischen Prägungen".
- 3. Die "selbstverliebte Attitüde" erweise eine pure Selbstdarstellungsintention.
- 4. Der Interpretationsstil sei lediglich auf sinnfreie Effekte ausgerichtet.
Schenken wir Torsten Laux den ersten Punkt, denn dieser ist wohl wund. Die Verantwortlichen der Trinity Church (Wall Street) werden allein wissen, warum sie sich nach dem 11. September 2001 und der Verrußung der Pfeifenorgel für eine Mega-Orgel des digitalen Standards entschieden. Offensichtlich hält es renommierteste Organisten aus aller Welt kaum davon ab, dort zu gastieren. Korrekt ist sicherlich: Auch eine High-End-Digitalorgel kann eine gute Pfeifenorgel mitnichten ersetzen.
Überzeugungstäter und/oder Selbstdarsteller?
Der Vorwurf einer vermutlich geringen kirchenmusikalischen Prägung erinnert von Ferne an die Einlassung Peter Planyavskys (hier u.a. mit einem fünfminütigen Orgeljournal-Interview - 5.12 MB), der an einer Stelle seines bekannten Buches "Gerettet vom Stephansdom" sinngemäß die Anmerkung mit auf den Weg gibt, dass jemand, der Humperdincks "Hänsel und Gretel" aufführe, auch nicht an besagte Märchengestalten glauben müsse. Dennoch: Kennt Torsten Laux die Glaubenserfahrungen von Cameron Carpenter?
Zum Vorwurf der "selbstverliebten Attitüde" kann man eigentlich gar nichts sagen. Er ist eine sog. Killerphrase, die man grundsätzlich jedem sich öffentlich machenden Künstler vorwerfen könnte. Bezüge zwischen dem gewiss bizarren "Popstar"-Outfit Carpenters und der künstlerischen Aussage mittelbar herzustellen, hat einen ähnlichen Wert wie abträgliche Einlassungen über Iveta Apkalnas Orgelschuhe. Die männlich dominierte Orgelwelt hat hier bereits bunteste Blüten getrieben.
Übrigens entwirft Carpenter sein Outfit höchst persönlich und kann auch Pailletten mit Nadel und Zwirn fixieren. Und überhaupt: Sich selbst zu lieben, ist eine jesuanische Grundvoraussetzung der Nächstenliebe. Vielen professionellen Musikern mit nachhaltigen Selbstzweifeln und nagenden Versagensängsten wäre ein Mehr an Eigenakzeptanz zu wünschen, da sie zwischen grandiosem Lebensgefühl und Depression schwankend wertvolle Energien an sich selbst vorbeileiten.
"Virgil Fox (1913 - 1982), „enfant terrible“ der amerikanischen Organisten führte in den Siebziger-Jahren unseres Jahrhunderts Konzerte mit Bachschen Orgelwerken auf in Hallen, die sonst für Rockkonzerte genutzt wurden, vor Tausenden von Zuhörern. Er spielte auf einer elektronischen Orgel mit fulminanter Technik und spielerischer Phantasie alle Möglichkeiten einer Orgel des 20. Jahrhunderts aus: Mitten in einer Triosonate konnte es vorkommen, daß der Klang (mittels Schweller) bis zum Pianissimo verschwand, um sich nachher wieder kräftig aufzubauen. Sämtlichen Musikwissenschaftlern würden die Haare zu Berge stehen, die Zuhörer waren begeistert." mehr (siehe Artikel "Historistisches Orgelspiel") |
Etwas mehr Substanz besitzt allerdings die vierte Behauptung, auch wenn sie in der Lauxschen Rezension ohne jeglichen Nachweis bleibt. Dieser Vorwurf der interpretatorischen Sinnfreiheit zielt jedoch mit der Hybris einer akademischen Deutungshoheit völlig ins Leere, da sie der puren Spiellust des Interpreten gar nicht gerecht werden kann. Wer ist hier autorisiert, Sinn einer Interpretation zu definieren?
Machen wir ganz es konkret: Carpenter spielt stets auswendig und registriert ebenso völlig autark. Er ist in der Lage, nahtlose Crescendi ohne Walze zu steuern. Anglo-amerikanische Divisionals kommen ihm dabei offensichtlich stets entgegen. Dabei legt er in Agogik und Klanggestaltungen einen Stil an den Tag, der stark an Jean Guillou oder auch - jedenfalls mittelbar - an Karl Straube erinnert. Letzterer ist uns durch Käte van Tricht stark in Erinnerung gerufen worden. Carpenter scheut sich nicht, Register- oder Tempiwechsel vorzunehmen, die durch Gewohnheit überhörte Passagen völlig neu beleuchten. So z.B. zeichnet er einen oftmals repetierten Ton im D-Dur-Praeludium (BWV 532) mit einem Zungenregister überaus deutlich durch das Stimmengeflecht hindurch. In der Toccata F-Dur (BWV 540; nebenbei: CC spielt sie gerne in Fis, nota bene!) phrasiert er beispielsweise Pedalstimmensequenzen unterschiedlich und betont sie gleichzeitig durch kontrastreiche Registrierungen. Allein das gewaltige Orgelpunkt-Crescendo zu Beginn, das sich dann in einem fulminanten Pedalsolo eruptiv mit einer atemberaubenden Impulskraft entlädt, lässt staunen und rufen: So habe ich Bach noch nie gehört!
Wenn Laux derartige Stellen meinen sollte - wie gesagt, er bleibt da ohne jegliche Details - dann stellt sich die Frage: Was soll daran sinnfrei sein? Seit wann ist ein Effekt etwas per se Negatives? Davon lebt Orgelmusik seit Jahrhunderten. Hier spricht ein homo ludens mit Tönen, und das mit einer schier unbändigbaren Energie, die einerseits nervös wirken mag, jedoch andererseits einen Drive in sich trägt, der jegliche gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber dem gemeinhin als langweilig geltenden Orgelspiel entkräftet, als hätte es sie niemals gegeben. Carpenters Musik lebt, und in Interviews zeigt sich, dass diese reflektiert ist.
Digitalorgel ohne Kirche neu gedacht: Die Grazer Konzertorganistin und Orgelpädagogin Margareth Tumler vertritt seit geraumer Zeit ambitionierte Thesen zum Thema Orgel im Spannungsfeld einer u.a. musiksoziologischen Verortung. Das wird in der sog. Szene - die sich insbesondere kirchlich-religiös zu definieren anschickt - gut wahrgenommen und durchaus kontrovers diskutiert. Zuweilen stoßen Tumlers quergedachte Betrachtungen auf heftige Gegenwehr, die die Vermutung nahelegt, dass ... mehr |
Johann Cameron Bach?
Seine weithin bekannten Werk-Adaptionen sind die eine Sache, ganz andere Welten tun sich jedoch mit seiner improvisierten Kadenz in der G-Dur-Fuge von BWV 541 auf. Die zunächst generierten leisen Klänge lassen das Bachsche Tonmaterial wie in einem surrealen Traum erscheinen, der sich in gewaltigen Kampfesszenen entlädt. Nach Beendigung des originalen Fugenschlusses gibt es jedoch noch einmal einen Nachschlag: Er führt den Schlussakkord nahtlos (in einer Art Reminiszenz an die improvisierte Kadenz) weiter und beendet nach 15 Sekunden die Fuge mit einer heftigen Dissonanz. Dieses äußerst beeindruckende kreative Unikat steht in starkem Kontrast zu den übrigen von ihm eingespielten Bachschen Werken, die er bis auf sehr wenige Stellen recht "originalgetreu" interpretiert. Gewiss ist keine dieser beiden Herangehensweisen, die der Amerikaner virtuos aufzeigt, etwas für die Puritaner der historistischen Orgelszene.
In diesem Zusammenhang ist es dann gut zu verkraften, dass Carpenters Adaptionen Bachscher Klavier- resp. Cembalowerke für die Orgel (noch?) nicht die reife Durchdringung eines diesbezüglich gleichsam tätigen, aber nicht ausführenden Max Reger suggerieren.
Conclusio
Der Wahl-Berliner Cameron Carpenter stellt offensichtlich stilistisch betrachtet eine Synthese aus Käte van Tricht, Jean Guillou, Virgil Fox und Günther Kaunzinger mit einem gerüttelt Maß Isao Tomita dar - und das bei technischen und marketing-phänotypischen Alleinstellungsmerkmalen. So könnte man das Phänomen CC mit semantischer Hypertrophie zu beschreiben und einzugrenzen versuchen. Man sollte jedoch in diesem Satz das Wort "versuchen" betonen. (mpk)