Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
CC & Digitalorgel - Über die Angstreflexe der Orgelszene
Gedanken zu Cameron Carpenters CD/DVD "If you could read my mind"
überarbeitete Version
Es amüsiert mich immer wieder, wie Taylor Cameron Carpenter in der unbeliebten und überaus philiströsen Orgelszene (mit den drei weithin wahrgenommenen L für langsam, laut und langweilig) rezipiert wird. Als er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vor einer erlauchten und sich weihnachtlich tümelnden Gemeinde nebst Bundespräsidenten seine ganz eigene Version zu "Vom Himmel hoch" auf einer historischen Orgel zum Besten gab, schrieb ein anonymer Poster in einem ob seiner Ansprüchlichkeit umstrittenenen Orgelforum: "Das Büblein stampft und hacket mit seinen Stiefelein".
Ich dachte mir bei all dem peinlichen Neideifer: Da mögen sie noch so sehr geifern und sich als in der sehr begrenzten Welt der Orgel-Nörgologie Habilitierende elaborieren, Carpenter versteht es doch wohl, seine Kompetenzen im Fächerkanon aus Musik und Marketing hochvirtuos und überaus professionell zu platzieren. Hier hält er sich in einer guten monetären Tradition auf, die sich mit den Namen Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart oder Richard Strauß schmücken lassen dürfte. Von Mozart scheint ihn freilich zu unterscheiden, dass er mit Geld wohl weitaus besser umgehen kann, denn seine letzte große und nachhaltige Investition war allem Anschein nach die Realisation der neuen großen und höchsteigenen Digitalorgel, die er nach seinen ganz eigenen Vorstellungen durch die reüssierte US-amerikanische Firma Marshall & Ogletree (Stichwort: Trinity Church Wall Street, New York City) fertigen ließ.
Debüt-CD: International Touring Organ (ITO)
Dieses in weniger als drei Stunden installierbare Unikat besitzt einen fünfmanualigen Spieltisch, ein zu beiden Seiten erweitertes Pedal und eine jeweils in den Needham/USA und Berlin verfügbares Soundsystem, das insgesamt das Volumen eines Einfamilienhauses haben dürfte. Die auf der CD/DVD zu hörende Klanglichkeit vermochte ich bislang durch eine Digitalorgel noch nicht hören zu können.
Wenn wir einmal die typisch amerikanischen und gleichwohl bezirzenden Theaterorgelklänge beiseite lassen (sie müssen auch nicht jedermanns Geschmack sein, jedenfalls nicht im Alten Europa der Orgelpuristen), so dürfte allein schon der suggestive Charme der aufschlagenden Zungenstimmen im Modus vielfältigster Anschlagsvarianten überzeugen. In Marcel Duprés "Variations sur un Noël" werden sie in fast brutaler Weise eingesetzt. Dieser Orgel-Syntheziser scheint von der großen Domorgel bis zur Wurlitzer alles zu schaffen, was beeindrucken kann. Das hat er mit Taylor Cameron Carpenter in technischer Hinsicht gemein.
Weitere Informationen zur International Touring Organ (ITO): ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ Neue ITO-CD: "IT BEGINS: Recording has begun for my next Sony Classical album, 'All You Need Is Bach', featuring the International Touring Organ ..." mehr ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ Vorsicht Satire! Ausblick angesichts einer freudefreien Orgelszenerie ... Damit
ich die von mir bislang als bildungstümelnd und bierernst wahrgenommene
Orgelszenerie überhaupt aushalten kann, brauche ich etwas Humorvolles.
Deshalb erfinde ich jetzt einen schlechten Witz. Alle in diesem Witz
geschilderten Handlungen und Personen sind frei
erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären
zufällig und nicht beabsichtigt. Nun denn, hier jetzt der Iocus: Cameron
Carpenter will bei einem deutschen Orgelprofessor Unterricht nehmen. Er
möchte ergründen, warum er zuweilen heftig kritisiert wird. So schreibt
er mehrere (auch reüssierte) Professoren an; es stört ihn - ganz
anglo-amerikanisch - dabei nicht, dass diese zuweilen weder eine
Dissertation noch eine Habilitationsschrift vorweisen können. Alle
antworten wohlwollend. Carpenter kann sich nicht entscheiden und
vereinbart mit allen Professoren Unterrichtsstunden. Der
Unterrichtswunsch des in Berlin wohnenden US-Amerikaners spricht sich in
der Szene herum. Man hört aber monatelang nichts Neues davon und
wundert sich, dass sein Konzertkalender weiterhin bis zum Anschlag
gefüllt ist. So kommen bei Insidern Zweifel auf. Nachdem der Name eines
Orgelprofessors bekannt wurde, fragt man diesen, der in einem
Carpenter-Konzert hinter der letzten Reihe einen Stehplatz ergattert
hat, während der Pause nach dem Unterrichtsprojekt. Der Professor
antwortet lapidar: "Das Projekt ist leider gescheitert. Carpenter hat
bei mir die Aufnahmeprüfung vergeigt. Bei meinen Kollegen war es
genauso." Wer diesen Kalauer nicht aushalten kann, mag sich alternativ mit "P.D.Q. Bach plays the organ" vergnügen. mehr Cameron Carpenter - "ein von der Aussicht auf glory angestachelter Kollege"? - hier klicken! Replik auf die CD-Rezension „Showmaster der Orgel – Revolutionary. Cameron Carpenter, Orgel. TELARC CD-80711“ von Prof. Torsten Laux (in: Musik und Kirche. Die Zeitschrift für Kirchenmusik, Sept./Okt. 2010, Nr. 5) Szene 1: An der Kasse des Dortmunder Konzerthauses möchte jemand Karten für das zwei Monate später stattfindende Orgelkonzert mit Cameron Carpenter erwerben. "Ist das Konzert bereits ausverkauft?", fragt er etwas verunsichert angesichts einer recht bunten digitalen Sitzplatzanzeige. Die Dame an der Kasse antwortet stoisch: ... mehr ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ Cameron Carpenter – ein Scharlatan 'weiblichen Typs'? Ein paar subjektive Bemerkungen zu Prof. Ulrich Walthers Sichtweise auf einen US-amerikanischen Ausnahmeorganisten (Ulrich Walther: Zwischen Crossover und Kommerzialisierung. Die Orgel im Spannungsfeld fortschreitender kultureller Ökonomisierung – ein Plädoyer für die künstlerische Orgel im 21. Jahrhundert. In: organ - Journal für die Orgel (Jg. 18) Heft 2015/1, S. 24-31.) mehr ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ Digitalorgel ohne Kirche neu gedacht: Die Grazer Konzertorganistin und Orgelpädagogin Margareth Tumler vertritt seit geraumer Zeit ambitionierte Thesen zum Thema Orgel in einem Spannungsfeld, das durchweg musiksoziologisch verortet werden kann. Dieses wird in der sog. Szene - die sich insbesondere kirchlich-religiös zu definieren anschickt - gut wahrgenommen und durchaus kontrovers diskutiert. Zuweilen stoßen Tumlers quergedachte Betrachtungen auf heftige Gegenwehr, die die Vermutung nahelegt, dass ... mehr |
Agiles und Kontemplatives
Carpenter versteht sich in selbstbewusst reflektierter Weise als Organist und Komponist. Letzteres ist vielen gar nicht so sehr bekannt. Die besagte CD/DVD kann diese Doppelqualifikation mit überaus agilen und im Gegensatz dazu auch sehr kontemplativen Werken eindrücklich kommunizieren. Von Bach über Bernstein oder Carpenter bis Piazolla und Scriabin wird neben Carpenters erstaunlichen "Song Paraphrases" jede Menge durchdekliniert.
Durch Cameron Carpenter ist die Orgellandschaft zweifelsfrei beachtlich bereichert worden. Pluriiformität ist angesagt. Milieus sind zugänglich, die unansprechbar schienen. Es bleibt allerdings festzustellen, dass viele mit der inneren Ruhe des Amerikaners wenig umzugehen wissen. Vielleicht überfordert er auch mit dem Ambitus zwischen Namaste im Konzert und einem kurzen DVD-Sixpack-Striptease.
Angstreflexe einer wohlanständigen Orgelszene
Der Amerikaner und Wahl-Berliner versteht sich als säkularer Künstler. Das alles macht selbstverständlich insbesondere den Organistinnen und Organisten Angst, die weithin kirchlich determiniert sind oder den zukunftsunsicheren kirchlichen Arbeitgebern institutionell zuarbeiten (müssen). Ich nehme durchaus verschiedenste Kränkungen in der auf Wohlanständigkeit bedachten Szene wahr. Müsste man sich ansonsten so sehr an Carpenter stören?
Insofern verstehe ich auch mittlerweile noch mehr, dass Torsten Laux bereits 2010 in recht deutlicher und zugleich auffälliger Weise vor dieser Art von Amerikanisierung durch Carpenter warnte, "dessen synthetisch erzeugter Ruhm von den USA nun auch zu uns herüberzuschwappen droht".
Ich sage dazu nur: Toi, toi, toi. (©mpk)