Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
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Kirchenmusiker und "Das Heil im Gestern"
Gedanken zur traditionalistischen Verlegenheit kirchlicher Berufsmusiker
Das folgende Zitat stammt von Eduard Nagel, der im Editorial Auf zwei Minuten der renommierten Zeitschrift Gottesdienst (Liturgisches Institut Trier) die Leserschaft immer wieder mit wahrlich bemerkenswerten Impulsen bereicherte:
"... Wenn es wahr ist, dass Außenstehende die Kirche vor allem in ihrer Liturgie wahrnehmen, was bedeutet es dann weiter, wenn vielerorts das mehrstimmige Kirchenmusikrepertoire an hohen Feiertagen noch nicht die Schwelle zum 20. Jahrhundert erreicht hat? Ein unbefangener Beobachter mag daraus schließen, dass es eben seither kaum mehr entsprechend hochwertige Kompositionen für die Liturgie gegeben hat. Und was zeigt sich, wenn bei solchen Gelegenheiten aus Sakristeischränken barocke „Bassgeigen“ oder ihnen nachempfundene Stücke aus der Zeit nach 1900 ausgegraben werden? Wohl nichts anderes, als dass seither Entstandenes von geringerer Qualität ist. So signalisiert die Kirche akustisch und visuell, wo sie ihr Heil sucht: im Gestern. ..."
Dass in dieser Analyse sehr viel Wahres steckt, dürfte vielen bewusst sein. Die hier und dort traditionalistisch anmutenden Reflexe von vor allem jüngeren kirchlichen Amtsträgern können die offene Wunde angesichts vieler kirchlicher Erfordernisse bestätigen. Jedoch handelt es sich hier - wie auch musikalischerseits - nicht nur um plattitüdenhafte Alternativen wie konservativ, liberal oder gar fortschrittlich. Der zu gewinnende Mehrwert oder zu erzielende Fortschritt liegt auf einer ganz anderen qualitativen Wahrnehmungsstufe. Es geht um Wagemut, Offenheit, Befreiung und Experiment. Christentum findet im Jetzt - eingedenk bereits gemachter und kommunizierter - Erfahrungen statt. Musica Sacra ebenso. Das Suchen des Heils im Gestern unter Zuhilfenahme kleinbürgerlicher oder vermeintlich Hochkultur repräsentierender Sozial-Codes zeigt die Abgründe einer bereits seit Jahrzehnten dräuenden Nachlassverwaltung und der Sehnsucht auf, doch sicheren Boden unter den Füßen haben zu wollen. Die Faszination am Phänomen Messiaen beispielsweise weist gleichwohl auf diverse Sehnsüchte nach Neuem hin; leider häufig in der sich elitär gebenden Form eines tonartlichen Gefängnisses.
Christian Modehn: Von der Lust am Weihnachtsoratorium ""Der Tagesspiegel" berichtet am 14. Dezember 2014 unter dem Titel „Herzen in die Höhe“ über die Aufführungen des Weihnachtsoratoriums von J. S. Bach in Berlin zur Advents- und Weihnachtszeit. Der Artikel von Carsten Niemann nennt eine interessante Statistik: „Mit rund 50 Aufführungen pro Saison hat wohl keine andere Stadt der Welt eine solch hohe Dichte der Darbietungen der 1734 entstandenen sechs Kantaten aufzuweisen“ (S. 27). Und das Interesse des Publikums am Weihnachtsoratorium von Bach und die Bereitschaft der Sängerinnen und Sänger sowie der Orchestermitglieder (oft ebenfalls hoch qualifizierte „Laien“), das Werk immer wieder neu aufzuführen, sei ungebrochen groß. Wie viele Menschen hören in einem Jahr das Weihnachtsoratorium in der “gottlosen” Stadt Berlin?" mehr Männerschwund? Gedanken zum dreistimmig singenden Kirchenchor (inkl. Notentipps) Die kirchliche Chorszene hat sich in den letzten Jahren deutlich diversifiziert. Chöre, die in der bekannten katholischen Ordinariumsfalle sitzen oder das der Hochkultur verpflichtet erscheinende protestantische Programm "Schütz, Bach & Mendelssohn" im Dauer-da-capo abarbeiten, sind merklich in die Minderzahl geraten, konzentrieren sich auf immer größere ... mehr ++++++++++++++++++++ Offensive Gedanken von Stefan Klöckner: "Gegenwelt im „Retro"-Look - Droht eine Perpetuierung des liturgischen Plusquamperfekts? ... Durch die katholische Kirche schwappt seit geraumer Zeit offenbar eine große „Retro-Welle"; wie das Beispiel der Pop-Musik (Lana Del Rey mit „Born to die"; Anm. d. Red.) zeigt, ist sie aber nicht entweltlicht genug, um hierin singulär zu sein. Retro-Wellen sind in der Kirche immer wieder auszumachen; sie gehören zu ihrer Verfassung, insofern die Kirche ein in der Geschichte (re-)agierendes Gefüge von Menschen ist. Dies ist so lange unbedenklich, wie nicht der Versuchung nachgegeben wird, einen vergangenen Zustand (beispielsweise eine geschichtliche Momentaufnahme von kirchlicher Liturgie und Musik) nicht mehr als historisch bedingte Situation wahrzunehmen, sondern ihm den Charakter der Überzeitlichkeit zuzuerkennen, ihn gleichsam zu perpetuieren und ihm dauerhafte Gültigkeit und somit Autorität des Normativen zu verleihen. Dadurch entsteht das Bild von Kirche als einer sakralen Gegenwelt (man könnte in diesem Zusammenhang von einer „entweltlichten" Kirche sprechen), die sich dem gefährlichen Strom der Geschichte wie ein Fels entgegenstemmt und den Menschen Zuflucht vor allen Unbilden der Zeitläufte bietet. Das wäre ein zumindest partieller Abschied von der „ecclesia semper reformanda", die unter der Begleitung Gottes durch die Geschichte pilgert und sich immer wieder neu und auch in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen mühsam gestalten muss. Eine generelle Entweltlichung der Kirche ist in unserer Gesellschaft gottlob unmöglich; zu verflochten sind die kirchlichen Aufgaben in die konkrete Gestalt der Gesellschaft. Das gilt jedoch offensichtlich nicht für die Liturgie. Liturgisch gibt es derzeit wieder viele Ecken, die mit Accessoires längst vergangener Zeiten gefüllt werden: Man registriere hierzu etwa die Entwicklung der liturgischen Sprache (die Vorgänge um das Beerdigungs-Rituale lassen mit Blick auf das neue Messbuch einiges erahnen) sowie der liturgischen Feierformen, aber auch die zunehmende Konzentration liturgischer Kompetenzen auf das geweihte Amt unter vermehrt zu beobachtender Zurückdrängung der Laiendienste. Dieser Vorgang wird ganz offiziell präsentiert als ein „gesunder Korrekturprozess" hinsichtlich der letzten liturgischen Reform, die bekanntermaßen sehr stark von Orientierung an urkirchlichen Vorbildern, von Entschlackung und Reduktion auf das Wesentliche geprägt war. Wer sich heutzutage Gedanken macht über die Spannung zwischen Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit im liturgischen Bereich, sieht sich mit entgegengesetzten Tendenzen konfrontiert, die beispielsweise durch die gezielte Wiederzulassung der tridentinischen Messe offensichtlich reziproke ästhetische und theologische Modelle präferieren. Um welche „Welt" geht es aber hier? Handelt es sich um eine romantische Reminiszenz an eine „ecclesia triumphans", in der von prachtvoll gewandeten Amtsträgern vor den Augen einer anbetenden, schweigenden und aller mühsamen Aktivität enthobenen Gemeinde ein großes heiliges Spiel vollzogen wird? Soll auf diese Weise der Gottesdienst zum Fluchtpunkt vor der Realität werden, wie es die selbst gefühlte Speerspitze des neuen „Basta-Katholizismus", Matthias Matussek, in seinem 2011 erschienenen Buch beschreibt: „Für uns Katholiken ist die Liturgie der Ausweg aus dem Alltäglichen, die Tür ins Heilige. (…) Wenn es eine Gegenwelt gibt, dann entsteht sie, erstrahlt sie in diesen heiligen Verrichtungen." MuTh-Empfehlung: Äußerst lesenswert! |
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Familie Monika und Dr. Bernward Kühnapfel sei hiermit ein herzlicher Dank ausgesprochen.
Die Bandbreite neuer Formen und Inhalte wäre indes groß: Von Ralf Grössler mit symphonischen Gospeloratorien wie "Prince of Peace" über John Rutter bis zu Friedbert Wissmann & Andreas Böttcher oder Dieter Falk ist jede Menge an Gestaltung möglich, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen.
... und das in der Quasi-Abitur-Kirche der BRD!
Mittendrin sitzen die Musikschüler, die eine industrie-devote Politik an das Gymnasium des mitunter kindverachtenden G8-Turbo-Abiturs ausgeliefert hat und des Nachmittags noch einige wenige Minuten für Chor und Instrument erübrigen können. Wenn überhaupt. So ist es denn eine berechtigte Frage, ob denn in zehn Jahren die musikalische Sprache verlorener oder auch nie wirklich erreichter Milieus liturgisch überhaupt noch zur Aufführung kommen kann. Aber das nur nebenbei.
Jedoch wäre damit ausgesprochen, was ohnehin jeder Miteingebundene fühlt: Kirchliches Milieu spielt sich sozialpsychologisch insbesondere in den Funktionskreisen von Großgemeinden de facto nur in Schichten ab, in denen das Abitur ohne jeglichen Zweifel als bildungsbürgerliches und zugleich arg ausgrenzendes Fundamentum angestrebt wird. Die Mittlere Reife kann man häufig tolerieren: Schließlich hatte ja N.N. eine schwere Kindheit. Ganz andere Fälle werden geflissentlich an Diakonie oder Caritas delegiert, da der wahre Alltag jedoch mehr als ein Mono-Milieu bereithält. Und Jesus von Nazareth, der letztlich einen Wortschatz unterhalb der Bildzeitung besaß, wusste vom Kulturbewusstsein und der Menschenkenntnis seines Gottes sehr viel zu erzählen - und das ohne höheren Bildungsabschluss.
Zurück zur Musica Sacra: Was wäre denn eigentlich an einem Lobpreis-Gassenhauer samt Gitarre oder Keyboard verwerflich, wenn er denn die Seele vieler erquickte? Was hätte genannter Jesus als Freund der Fresser und Säufer (Mt 11,19) empfunden, wenn er vom Heute geprägt worden wäre und sowohl Parallelen als auch Harmoniewechsel von V zu IV zu hören bekäme?
Zur genaueren Betrachtung die Illustration bitte anklicken! Ein herzlicher Dank an Dorit Heine!
Werden Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker ihrem missionarischen Auftrag gerecht?
Zumindest oft zu wenig und mancherorts gar nicht. Und damit wären wir wieder bei der letztlich aufdringlichen Ausgangsproblematik: Mit wem und für wen sollte Musica Sacra aufgeführt werden? Die Beantwortung liegt eigentlich nahe. Liturgische Musik muss den Alltag von Du und Ich als subjektiven Erfahrungshorizont akzeptieren (das heißt hier konkret: von WDR 2 bis YouTube), dessen Erleben in Bezug zu Gott stellen und in kommunizierbar würdige Formen gießen. Wenn Musica Sacra jedoch den alltäglichen Erfahrungsraum vergessen möchte, wird sie vergessen werden. Dieser Umstand bedarf keiner weiteren Empirie. Der Nachweis wurde bereits durch gesellschaftliche Randexistenz und sich leerende Kukident-Gottesdienste längst erbracht.
Durchaus restbeständliche Milieus von allenfalls 150 getreuen Mitstreitern aus dem ergrauten Bereich Ü-50 (nota bene: in XXL-Gemeinden!) zeigen auf, dass Kirchenmusiker nicht nur ihrem liturgischen, sondern auch katechetischen und somit missionarischen Auftrag wenig gerecht werden, wenn lediglich eine Mono-Zielgruppe bedient wird.
Parakatechetisches Kultur-Konzept: "Musik - Sie ist die größte katholische Kultursparte. In 18.860 katholischen Chören und Musikensembles haben sich 424.707 Laienmusiker und -musikerinnen zusammengeschlossen. Signifikant ist der hohe Zuwachs bei Kinder- und Jugendchören. Das ist eine wesentliche und zukunftsweisende Differenz zu den von Staat und Kommunen geförderten Kultureinrichtungen, die ihrerseits ein Nachwuchsproblem haben. Der Allgemeine Cäcilienverband (ACV), in dem die meisten katholischen Chöre organisiert sind, betreibt seit einiger Zeit ein Projekt „Singen mit Kindern“, das zu einem ganzheitlichen, pastoral ausgerichteten Vorgehen anleitet. Denn das kirchliche Laienmusizieren ist oft das einzige Scharnier zu der wachsenden Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die religiös nicht mehr sozialisiert sind. (Sic!, Anm. d. Red.) Die katholischen Chöre sind einerseits als Freizeitangebot auch für kirchlich weniger Geprägte attraktiv, wirken aber zugleich regelmäßig an der Gestaltung der Liturgie mit. Dass dieses „parakatechetische“ Kultur-Konzept voll aufgeht, beweist der derzeitige Höchststand von 5.000 Kinder- und Jugendchören mit mehr als 100.000 Mitgliedern. Mittlerweile sind immer mehr Chorleiter ehren- und nebenamtlich tätig und bedürfen gerade für die anspruchsvolle Kombination von Musik und Pastoral dringend einer hauptamtlich gestützten Aus- und Weiterbildung. Aufgrund der in vielen Bistümern anstehenden Kürzungen bei hauptamtlichen Kirchenmusiker Stellen ist aber genau dieses Konzept immer schwerer realisierbar." (zitiert nach der ursprünglichen und nunmehr überarbeiteten Textfassung der DBK-Website) mehr "Findet das Zwillingspaar Kirchenmusik-Katechese eine Entsprechung in der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Kompetenzen und in der Realität des Gemeindelebens, insbesondere der Vorbereitung und Feier von Gottesdiensten? ... Wir Bischöfe sehen im Singen mit Kindern Ressourcen und Chancen für die Glaubensbildung der Kinder und für die kirchliche Zukunft. Eine noch intensivere Berücksichtigung der Musik innerhalb der pastoralen, religionspädagogischen und kate-chetischen Diözesanplanungen könnte diese Intention zusätzlich stärken." Die deutschen Bischöfe - Liturgiekommission - Nr. 31 - Kinder singen ihren Glauben - 27. April 2010 „Kirchenmusik ist eine Querschnittsdisziplin … Sie ist Verkündigung und Gebet, Ausdruck individueller Frömmigkeit und gemeinsam gestalteter Religiosität. Sie hat eine seelsorgerliche, diakonische und missionarische Dimension. Sie kann für sich beanspruchen, im Medium der Musik Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu sein. Kirchenmusik hat darüber hinaus große Anteile am katechetischen Wirken der Kirche. Sie erfüllt mit anderen Disziplinen zusammen den Bildungsauftrag unserer Kirche und ist Kulturarbeit im weitesten Sinne. Nicht zuletzt ist Kirchenmusik auch Öffentlichkeitsarbeit in ihrem Wirken weit über die binnenkirchlichen Grenzen hinweg in die Gesellschaft hinein.“ Britta Martini/Gunter Kennel (zitiert nach: "Ein neues Lied am Ufer der Zukunft - Vortrag auf dem Kirchenmusikerkonvent - 27. Februar 2010) |
Fast mag man den allermeisten Musikern keinen Vorwurf machen, da sie hinsichtlich Prägung und Ausbildung nie etwas anderes kennenlernen konnten und durften. Was aber ist mit denjenigen, die ihr musikalisches Heimatmuseum von Frescobaldi bis Widor inkl. stereotyper Stilimprovisationen als fast militantes Panier ungeachtet aller Alternativen vorantragen und über Jahrzehnte der Gemeinde eine historistische und steckenpferdgerittene Einseitigkeit unter dem schutzbehauptenden Diktum von Kultur servieren?
Das Vergessen der Alternativen scheint insgesamt betrachtet die Crux des vielerorts im Gestern gesuchten Heils der Musica Sacra zu sein. Historistisches Spectaculum per Musica als Monokultur mitsamt einer Tyrannei der Orgel nebst liturgisch anachronistischer Chorarbeit à la "Wir singen nur Messen": Nein danke, denn nicht nur die Instruktion Musicam sacram von 1967 lässt in diesem Zusammenhang von Ferne grüßen! (mpk)