Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601

  

                                                                                                                                                                                                                        

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 UPDATE 

Albert Schweitzer und die Ketzerei eines Mystikers      

Wenn man heute den bekannten Geburtsort Albert Schweitzers, nämlich Kaysersberg im Elsass aufsucht, fällt doch sehr stark in den Blick, dass zwar Gugelhupf, Riesling und die Edelkarossen der gereiften Möchtegern-Upperclass zahlreich vorhanden sind, man jedoch ohne jeglichen Erfolg nach einem Konterfei des "Urwalddoktors" bzw. "Grand Docteur" Ausschau hält. Auch das Musée Albert Schweitzer liegt ohne sehr auffällige Hinweise in einem touristisch unbeachteten Teil dieser vermeintlichen Idylle. Ein Zufall? Wohl kaum, denn unterschiedlicher könnten die Lebenswelten von Schweitzer und dem Elsass-Zuckerbäcker-Tourismus der vielleicht gehobenen historistischen Art nicht sein, obwohl den Besuchern des Kleinods Kaysersberg in ihrer Edel-Outdoorkleidung keinesfalls die Suche nach Sinn und Wert abgestritten werden soll.  

Der Unbekannte gebietet: Du aber folge mir nach!   

O-Ton AS: "Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden wir erfahren, wer er ist …"       

Das sind Schweitzers abschließende Worte in seinem theologisch epochalen Werk "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung". Er outet sich mit diesen sehr subjektiven und bekenntnisartigen Schlussworten in einer wissenschaftlichen Arbeit als Mystiker oder säkularer und moderner gesprochen: als schlichter Existenzialist der Tat. Die weitere Betonung der realen Verwandtschaft mit Jean-Paul Sartre sei in diesem Zusammenhang nur am Rande erwähnt, da sie inhaltlich nicht evident, jedoch zumindest interessant erscheint.                                                                 

Es ist nun wirklich keine leichte Angelegenheit, Worte zu einem Mann zu finden, der an Nonkonformität, ja gewiss auch einem gerüttelt Maß an Schroffheit wenig zu übertreffen ist und zahlreiche Lebensvollzüge repräsentiert, wie es rund fünfzig Jahre nach seinem Tode kaum noch vorstellbar erscheint: Theologie, Philosophie, Musik in Theorie und Praxis, konkrete  Entwicklungshilfe inkl. noch konkreterer Medizin, Architektur im Sinne eines Bauingenieurs nebst politischem Friedensengagement inmitten eines überaus anfeindenden Atombombenzeitalters des Kalten Krieges - all das war ihm selbst noch als Hochbetagtem erstaunlich vital zu eigen. Welch eine Leistung, welch eine Gnade!

Theologe eines "freisinnigen Protestantismus"     

Je länger man sich mit dem Elsässer beschäftigt, desto deutlicher wird: Er ist durch und durch Theologe. Alle anderen Arbeitsgebiete sind für ihn eher Mittel zum Zweck der formenden Gestaltung, die den bereits durchdachten Inhalt erfahrbar macht. Es bleibt im Nachhinein unverständlich, dass seine epochalen theologischen Erträge zur Leben-Jesu-Forschung und zum Phänomen Paulus in der Zunft zwar durchaus zur Kenntnis genommen, jedoch in ihrer fundamentalen Wucht des Widerspruchs abwehrend ignoriert wurden. Die verwirrenden Ereignisse des folgenden Ersten Weltkriegs vermögen kaum als monokausales Erklärungsmuster herzuhalten. 


Der Theologe Albert Schweitzer verließ Europa früh. Da er keine weitere universitäre Laufbahn eingeschlagen hatte, kam sein Werk (Jesus/Paulus/Kulturphilosophie …) nicht so zum Zuge, wie es wünschenswert gewesen wäre. Die Zäsur des Ersten Weltkrieges tat ein Übriges dazu. Durch die Vorherrschaft der "dialektischen" Theologie (im evangelischen Bereich) wurde zudem alles verdammt, was Liberalität assoziieren ließ. Eine Ausnahme war die Schweiz. Dort hat die durch Martin Werner (1887-1964) begründete "Berner Schule" die Schweitzerschen Ideen aufgenommen und weiterentwickelt. Diese profunde theologische Facette ist in Deutschland weithin unbeachtet geblieben. Martin Werner geriet in Vergessenheit. Er blieb bis zu seinem Tod engster theologischer Freund Schweitzers, wovon der 2006 erschienene Briefwechsel der beiden zeugt.

Die folgende Buchrezension widmet sich einem besonderen Opus des Schweizer Theologen. -->> hier klicken!  

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Sehr empfehlenswerte Links zu Albert Schweitzer:

www.erbacher-hof.de/schweitzer - umfassender Webauftritt Rainer Nolls mit höchst reflektierten Inhalten zu Musik und Theologie Schweitzers

 

Rainer Noll, der von 1982 bis 1991 in Günsbach den gesamten musikalischen Nachlass Schweitzers einschließlich der Schallplatten geordnet und katalogisiert hat, fasst die Historie der bekannten Elsässer Dorforgel mit folgenden Worten zusammen: "1828 von Valentin Rinckenbach einmanualig erbaut, 1931 von Fritz Haerpfer auf zwei Manuale erweitert, 1961 Neubau unter Verwendung einiger alter Register durch Alfred Kern - beide Maßnahmen nach Schweitzers Plänen, der damit das 'Muster einer Dorfkirchenorgel' schaffen wollte."  

www.decouverte.orgue.free.fr/orgues/gunsbach.htm - Details zur Günsbacher Orgel in einem Portal zu Elsässer Orgeln

www.dahw.de/aktuelles/news/albert-schweitzer-interview-mit-dem-zeitzeugen-dr-van-wijnen - Interview mit einem Arzt, der als Zeitzeuge auf die letzten Jahre Albert Schweitzers differenziert eingeht     

http://cdn1.vol.at/2007/02/LebenJesuForschung.pdf - Franz-Josef Ortkemper mit einem profunden theologischen Beitrag zur Einordnung Albert Schweitzers in die Leben-Jesu-Forschung   

www.theologie.uni-greifswald.de/...ws-200405-e-graesser.htmlDenkanstoß „Das Recht, ein Ketzer zu sein“ - Erwägungen zu Albert Schweitzers liberaler Theologie von Prof. Dr. Erich Gräßer   

Der kritisch-historische Schock, wie ihn Schweitzer erstmals in einer Art Tacheles-Synopse auf den Punkt gebracht hatte, wird indes bis heute - zumindest in der gemeindlichen Pastoral beider Konfessionen - äußerst gerne verdrängt. Zuweilen hat man jedoch den Eindruck, dass Schweitzer als überaus Reflektierter und seit der Pubertät rational hartnäckigst Nachfragender (sein Vater wollte ihn in dieser Phase schon gar nicht mehr zu Besuchen bei Verwandten und Bekannten mitnehmen!) diese Ernüchterung selbst auch nicht aushielt und die konstruktive Flucht in mystisch-existenzielle Beantwortungen antrat. Seine Antworten besitzen indes die Wucht eines Schmiedehammers.  

Missverstandene Leben-Jesu-Forschung        

Schweitzers berühmte Conclusio aus der Leben-Jesu-Forschung ist häufig - und gerade auch in den unreflektierten Abgründen des WWW - gerne gänzlich missverstanden worden:                                                                                                                
"Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert. Es ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde."

Schweitzer hat keineswegs die historische Existenz Jesu in Zweifel ziehen wollen (was nebenbei völlig absurd wäre), sondern die Unmöglichkeit dargestellt, den wahren historischen Jesus finden und sehen zu können. Lassen wir an dieser Stelle Franz-Josef Ortkemper zu Wort kommen:

"Der eigene Beitrag von Albert Schweitzer ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur, daß er endgültig die Unmöglichkeit erkannt hat, ein Leben Jesu historisch zu rekonstruieren, nicht nur, daß er aufgezeigt hat, wie alle bisherigen Versuche, ein Leben Jesu zu schreiben, von den "Vorurteilen" des jeweiligen Autors geprägt waren, seinen eigenen Vorlieben und Wünschen. Vor allem hat Albert Schweitzer deutlich gemacht, wie fremd die Gestalt Jesu in der Gegenwart wirkt, provozierend geradezu."

An dieser Stelle muss der ebenfalls im Netz verbreiteten Fehlinformation widersprochen werden, die leider auch in dem sehr schwachen und in theologischer Hinsicht schlichtweg falschen Wikipedia-Artikel vorzufinden ist: Schweitzer sei doch davon ausgegangen, dass Jesus ebenso wie seine Jünger nicht an seine Messianität geglaubt habe. (Nachtrag: Mittlerweile wurde diese Fehlinformation in Wikipedia gelöscht und korrigiert; siehe Versionsunterschied 29.08.2014) Das Gegenteil ist jedoch wahr: Albert Schweitzer unterstellt Jesus von Nazareth das Messias-Bewusstsein. Er habe es lediglich niemandem mitgeteilt.  

"Jesus kann nur in dem Maße verstanden werden, als man ihn mit der eschatologischen Perspektive identifiziert. Entsprechend geht Schweitzer davon aus, daß Jesus die unter dem jüdischen Volk naiv-realistische messianische Erwartung eines Kommens des Reiches Gottes auf übernatürliche Weise teilte, sich für den kommenden überweltlichen Messias hielt und durch sein Leiden das Reich herbeinötigen wollte. Anders gesagt: Jesus war - was die weltanschauliche Bedingtheit seiner Verkündigung und seines Verhaltens anbetrifft - Apokalyptiker." (Erich Gräßer: Albert Schweitzer als Theologe, Tübingen 1979, S. 73.) 

"Biografische Stationen in der musikalischen Ausbildung Schweitzers   

  • mit fünf Jahren erster Klavierunterricht durch den Vater
  • mit acht Jahren erste Orgelstunden  
  • mit neun Jahren erstmals Gemeindeorganist im Gottesdienst in Gunsbach
  • mit zehn Jahren Klavierunterricht bei Eugen Münch in St.Stephan zu Mühlhausen
  • mit fünfzehn Jahren geregelter Orgelunterricht bei Eugen Münch an St. Stephan zu Mülhausen
  • mit achtzehn Jahren (nach dem Abitur) erste Zusammenkunft mit Charles-Marie Widor in Paris, von da in den Folgejahren regelmäßig Orgelunterricht bei Widor, mit dem er später auch vier Bände der Orgelwerke Bach gemeinsam edierte
  • 1898, mit dreiundzwanzig Jahren, neben dem Orgelunterricht bei Widor in Paris gleichzeitig Klavierunterricht bei Isidor Philipp und der gebürtigen Elsässerin und Liszt-Schülerin Jaël-Trautmann, unter deren experimenteller Anleitung er seine Spieltechnik völlig umgestaltete 
  • Sommer 1899 in Berlin, wo er als Probant an den psychologischen Studien zur Tonempfindung bei Karl Stumpf teilnahm     
  • neben den Fächern Theologie und Philosophie hörte er an der Universität Straßburg ebenso Musiktheorie bei Gustav Jacobsthal (u.a. intensives Kontrapunkstudium)"

Wolfram L. Adolph M. A. (Evang. Theologe u. Musikpublizist), in: Booklet der IFO-CDs "Albert Schweitzer - Der Organist", Saarbrücken 2010, S. 50.

Nota bene: Dieser Text von Wolfram L. Adolph besitzt wohl allem Anschein nach auffällig große Ähnlichkeit mit einem Passus aus Rainer Nolls Vortrag "Vortrag beim Internationalen Symposium Bach 2000 am 12. Oktober 2000 im Sudetendeutschen Musikinstitut in Regensburg". Der Rest der Darstellung sei deshalb - der Integrität verpflichtet - aus dem offensichtlichen Original von Rainer Noll nachfolgend zitiert. Die Version von Wolfram L. Adolph (2010) bleibt gleichwohl der besseren Vergleichbarkeit wegen bestehen.

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"Konzerttätigkeit

Mit siebzehn Jahren erstes Orgelspiel im Konzert (Begleitung des Brahmsschen Requiems in Mülhausen unter Eugen Münch).

1894-1910 Organist des Wilhelmerchores in Straßburg unter Ernst Münch (Bruder von Eugen in Mülhausen). Hier Mitwirkung bei 60 Chorkonzerten (hauptsächlich Werke von Bach, aber auch von Beethoven, Bruckner, Händel, Mozart und Schumann). Bei Bach-Werken begleitete er aus dem Klavierauszug, in den er sich die Generalbassbezifferung eingetragen hatte. „Pressechef der Wilhelmer Konzerte": Er schrieb die Programmerläuterungen und die Presseankündigungen.

1905-1912 Organist der Pariser Bachgesellschaft, deren Gründungsmitglied er 1905 neben Gustave Bret, dem Dirigenten der Konzerte der Gesellschaft, Paul Dukas, Alexandre Guilmant, Vincent d'Indy, Charles-Marie Widor und Albert Roussel war. Mitwirkung bei 16 Konzerten (bei seinem letzten am 25. April 1912 erstes und einziges Mal auch als Solist in Paris!). Auch hier verfasste er die Programmerläuterungen.

Die Pariser Bachgesellschaft schickte ihm als Dank für seine Verdienste ein tropenfestes Klavier mit Orgelpedal nach Lambarene, auf dem er bis zu seinem Tode an seinem Orgelrepertoire arbeitete (steht heute in seinem Haus in Günsbach).

1908-1921 Organist des Orfeó Català in Barcelona unter Lluìs Millet. Mitwirkung bei 12 Konzerten (das letzte war die Erstaufführung der Bachschen Matthäuspassion in Spanien am 27. 2. 1921). Neben den Programmerläuterungen gehörte zu Schweitzers Aufgaben die Auswahl der Solisten und Einzelproben mit ihnen, sowie die Einrichtung des Orchestermaterials.

Mit achtzig Jahren letztes Konzert am 18. September 1955 in Wihr-au-Val (Elasß). Insgesamt spielte Schweitzer in 487 feststellbaren Konzerten in Elsaß-Lothringen (150), der Schweiz (73), Deutschland (67), Schweden (63), Holland (39), England (30), Frankreich (23), Dänemark (20), Spanien (13), Tschechien (7), Italien (1) und Guinea (1).

Auf die Jahre gesehen ragen besonders 1922 mit 77 Konzerten, 1928 mit 70 Konzerten und 1932 mit 42 Konzerten heraus.

Das Repertoire der Solokonzerte bestand hauptsächlich aus Werken von Bach, aber auch regelmäßig aus Werken von Mendelssohn, Widor und César Franck (vor dem Ersten Weltkrieg auch noch einigen anderen)."  

Quelle: www.erbacher-hof.de/schweitzer/musik   

Schweitzer hatte sich mit seiner liberalen Theologie, überaus dogmenskeptischen Grundoption und recht unverblümten Kirchenkritik im wissenschaftlichen Betrieb selbst nahezu ins Aus manövriert. Eine weitere akademische Laufbahn erschien bei aller Brillanz und Arbeitsdichte (allein bis zu seinem 28. Lebensjahr war er bereits Dr. phil. und Dr. theol. habil.) recht konfliktreich, da die Macht der protestantischen Glaubenswächter im pietistischen Gewande doch spürbar umfassend war.

Überaus aufschlussreich ist die Einschätzung des Zeitgenossen Julius Wellhausen, die hier ebenfalls durch die Darstellung Erich Gräßers zitiert werden soll:

"Schweitzer ist freilich nicht nur gelobt, sondern auch kritisch betrachtet worden. So z.B. von dem bedeutenden Greifswalder Alttestamentler Julius Wellhausen, Professor der hiesigen theologischen Fakultät von 1872 bis 1882 und auch deren Ehrendoktor (1882), der im Unterschied zu Albert Schweitzer den Gegensatz von Kirche und Wissenschaft so stark empfand, daß er seine theologische Professur schließlich niederlegte. Wellhausen schrieb 1911 über Schweitzer: „Seine Begabung, Productivität, seine Arbeits- und Forschungskraft sind imposant. Er ist Musiker, Mediciner, Pastor und Privatdocent, durch Concerte verdient er sich seinen Lebensunterhalt und die Mittel zur Missionierung der Kongoneger – er will im Herbst 1912 nach dem Kongo. Ich bin ganz starr und fürchte nur, daß er sein Pulver vorzeitig verschießen wird, so immens auch der Vorrat bei ihm sein mag. Für eine Professur an einer theologischen Fakultät paßt er natürlich nicht […].“"    

Selbst als er sich bei der Pariser Missionsgesellschaft als Missionar bewarb, machte man ihm mehr als deutlich: Wenn überhaupt, dann geht das bei uns nur als Medicus, dem das Predigen strengstens untersagt ist. Diejenigen, denen Schweitzer etwas vertrauter ist, wundern sich kaum, dass er sich an diese Auflage nie so recht hielt, da für ihn das Predigen eine Herzensangelegenheit darstellte. 

Ohne preußische Oberkirchenräte in die Hölle zwecks guter Gespräche? 

Schweitzers Ausspruch "Ich bin ein rationalistischer Pietist" erhält unter den genannten Aspekten eine gänzlich neue und schalkhaft-humorvolle Süffisanz. Die preußisch-protestantischen Oberkirchenräte, die Schweitzer angesichts seiner recht klaren Zukunftspläne in einem Brief vom 1. Mai 1904 an seine spätere Frau Helene Bresslau in wenig charmanter Weise erwähnte, hätten diese Art des Humors wahrscheinlich nur sehr zögerlich rezipiert:

„Und dann das Recht haben, ein Ketzer zu sein! Nur Jesus von Nazareth kennen; die Fortführung seines Werkes als einzige Religion haben, nicht mehr ertragen zu müssen, was das Christentum an Plebejischem, an Vulgärem an sich hat. Nicht mehr die Angst vor der Hölle kennen, nicht mehr nach den Freuden des Himmels trachten, nicht mehr diese falsche Furcht haben, nicht diese falsche Unterwürfigkeit, die ein wesentlicher Bestandteil der Religion ist - und doch wissen, daß man Ihn, den einen Großen, versteht und daß man sein Jünger ist. Gestern las ich das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, weil ich so sehr den Vers liebe: «Was ihr getan habt einem dieser Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.» Aber wo beim Jüngsten Gericht von der Scheidung der «Schafe und der Böcke» die Rede ist, da lächelte ich: Ich will nicht zu den Schafen und im Himmel treffe ich sicher eine ganze Gesellschaft, die ich nicht mag: St. Loyola, St. Hieronymus, und ein paar preußische Oberkirchenräte - und mit diesen allen freundlich tun und den Bruderkuss austauschen? Nein, ich verzichte, lieber in die Hölle, dort ist die Gesellschaft weniger gemischt. Mit Julian Apostata, Caesar, Sokrates, Platon und Heraklit läßt sich schon ein anständiges Gespräch führen. Aber ich diene ihm (Jesus von Nazareth; Anm. d. Red.) doch, seinetwegen, allein seinetwegen -, denn er ist die einzige Wahrheit, das einzige Glück." 

Wann atmet Orgelmusik?

Die Antwort eines ehemaligen Bezirkskantoren

"... Mein erster Orgellehrer pflegte stets zu bemerken, daß sich die Musikalität eines Organisten in Bachs Triosonaten zeige – und zwar vor allem in den langsamen Sätzen, in der Fähigkeit, die Spannung weiter und getragener Melodiebögen zu halten. Dem habe ich nach einem knappen halben Jahrhundert Orgelspielens und -hörens nichts hinzuzufügen. Wer (evtl. gar auf einer dreimanualigen Schmid oder Schuke mit rein mechanischen Koppeln) Duprés extrem schwieriges Präludium und Fuge g-moll nach den Metronomangaben des Maitre perfekt hinlegt, vor dem ziehe ich tief den Hut. Zum überragenden Musiker würde er für mich aber erst, wenn er Bachs „O Mensch bewein“ aus dem Orgelbüchlein so spielen würde, daß ich ihm bis in den harmonisch wahrhaft „entrückten“ Schlußtakt gespannt zuhöre. (Letzeres haben u.a. Marie-Claire Alain, Franz Lehrndorfer, Karl Richter, Helmut Walcha und – ihr werdet’s nicht glauben: Albert Schweitzer geschafft. S. spielt zwar largissimo possibile, aber die Kantilene atmet!) ..."  

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Eine Antwort zum modernen Verlangen nach Entschleunigung - oder: Warum spielt Albert Schweitzer die Orgel so langsam? 

Gedanken von Emanuele Jannibelli 

"Albert Schweitzer als Interpret - Zur Neuveröffentlichung ausgewählter historischer Orgelaufnahmen Albert Schweitzers

[...] Was können uns historische Tonaufnahmen heute noch sagen? Kann ein heutiger Interpret, ein Studierender zumal überhaupt noch etwas, da lernen? Geht es um mehr als das Schauder einflössende Gefühl, einem ganz Grossen bei der Ausübung seines Handwerks zuzuhören? Eines dürfte von Anfang an klar sein: Es kann hier nicht darum gehen, einen konventionellen Besprechungsversuch zu unternehmen. Natürlich ist es verlockend, das Gehörte nach heutigen Massstäben zu bewerten. Schon bei der ersten Durchsicht war dem Schreibenden klar, dass dies scheitern muss. Eines vorweg: Schweitzer käme schlecht weg; jeder halbwegs begabte Student kann es heute besser. Aber der Kritiker bekäme ebenso sein Fett ab. Er würde sich – nein, nicht als respektloser Besserwisser – bestimmt aber als Ignorant blossstellen. [...]

Da fällt dreierlei auf: die langsamen Tempi, das fast völlige Fehlen von Agogik und die sehr zurückhaltende Artikulation. Mit einem wohlfeilen Stereotyp liesse sich das so (ab)qualifizieren: objektives Musizieren. Am Ende gar Interpretationsverweigerung? Nun, dies geht zu weit. Schweitzer interpretierte durchaus (wie man nicht Nichtkommunizieren kann, kann man auch nicht Nichtinterpretieren!). Was wir hören, ist das Resultat interpretatorischen Willens. Es ist das Bestreben, dem Notentext möglichst grosse Geltung zu verschaffen. [...]

Schweitzer war als Interpret durch und durch Wissenschafter, freilich nicht Musikwissenschafter oder gar Philologe, nein viel mehr wollte er sein: Kulturwissenschafter, Philanthrop. Deshalb wäre es ein grober Missgriff, ihm aus der Sicht des stark parzellierten heutigen Wissenschaftsdenkens generelle Unwissenschaftlichkeit vorzuwerfen. Die Sache nicht einfacher macht allerdings die Feststellung, dass auch die Kostproben aus Mendelssohns, Francks und Widors Werk ausgesprochen langsam daherkommen. Gerade bei Mendelssohn ist dann doch der Vorwurf der Unrichtigkeit nicht von der Hand zu weisen. Und schon ertappen wir uns bei der schon fast blasphemischen Vermutung (welche die ganze Zeit, geben wir es doch zu, im Raum gestanden war), Schweitzer sei technisch einfach zu beschränkt gewesen, um einigermassen virtuose Musik entsprechend darzustellen. Und wenn dies so wäre! [...]  

Schweitzer wollte zum ersten kein Virtuose in Sinne eines Produzenten möglichst vieler richtiger Noten pro Zeiteinheit sein, zum anderen fiele ihm noch kein Stein aus der Krone, wenn man tatsächlich festhalten müsste, dass er mit seinen nicht wenigen aussermusikalischen Tätigkeiten vielleicht nicht ganz die instrumentale Brillanz reisender Konzertorganisten erreicht hat.

Die technische Solidität ist im Gegenteil erstaunlich. Für den Schreibenden waren diese wohlbekannten Stücke ausgesprochen schön anzuhören, eine Entspannung, ja Heiterkeit kam auf, wie sie bei vielen sogenannt modernen Aufnahmen nie möglich wäre. Wer möchte, kann sich natürlich langweilen. Aber das ist ein Problem, welches sich bei CD-Aufnahmen, einem Hors-Sol-Medium par excellence, immer stellt und beim Einfangen der Kirchenatmosphäre und ihrer Übertragung in die kleine heimische Stube erst recht."

Quelle: Berichte aus Lambarene und über das Gedankengut Albert Schweitzers - Nr. 112 - Oktober 2011, S. 26-29.     

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Info zur CD-Sammlung "Albert Schweitzer. Der Organist": IFO 00701-06 - 6 CD-Set - ADD Digitally remastered 2D-Sound - Albert Schweitzer spielt Bach, Mendelssohn, Franck und Widor an den Orgeln von All Hallows by the Tower und Queen´s Hall (London), Sainte-Aurélie (Strasbourg), Èglise protestante (Gunsbach); u.a. mit bislang unveröffentlichten Ansprachen Albert Schweitzers aus den Jahren 1932 und 1959  zu weiteren CD-Hinweisen     

 

 

Kontrapunkt mit Aufforderungscharakter     

Die Aktualität Albert Schweitzers erweist sich - fernab aller auch durch ihn mitverschuldeten hagiographischen Züge nach dem 2. Weltkrieg - in seinem Aufforderungscharakter, den er mit seinem Kontrapunkt von Denken und Tat sehr suggestiv transportiert. Die idealisierenden Beschreibungen Schweitzers nähren geradezu den Verdacht, seine von jedermann letztlich im eigenen Alltag anwendbaren Botschaften gekonnt verdrängen zu wollen. Die Verklärung zum "Orgelvirtuosen" ist nur einer dieser Abwehrprozesse. Mit anderen Worten: Je höher ich jemanden hänge, desto weniger stellt er ein Vorbild dar, dem ich mit Selbstkraft in meiner eigenen Authentizität "nacheifern" kann. Die Alternativen liegen im Abziehbildwesen des Epigonalen oder freilich in dem Entschluss zur Tatenlosigkeit. Wie viele kleine Lambarenes sind auf die Art und Weise erst gar nicht begonnen worden?

  • "Es gibt nicht nur ein Lambarene, jeder kann sein Lambarene haben." (AS)       
  • "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." (AS)                     
  • "Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich ... Man wird auch kein Auto, wenn man in einer Garage steht." (AS)

  • "Kein Christ darf etwas ungeprüft als Glauben annehmen. Nicht der Unglaube ist der gefährlichste Feind des Christentums, sondern die Gedankenlosigkeit, die da wähnt, wir müssen nur etwas, weil es im Glaubensbekenntnis überliefert ist, einfach annehmen." (AS)                                                                     
  • "„Es ist das Los der Kleingläubigen der Wahrheit, daß sie als echte Petriner römischer und protestantischer Observanz jammernd da versinken, wo die an den Geist glaubenden Pauliner auf dem Meere der Ideen ruhig und sicher einherschreiten.“ Der war Schweitzer selber: ein auf dem Meer der Ideen ruhig und sicher einherschreitender Pauliner. Und wer weiß, ob es trotz der Anfechtbarkeit seiner Theologie in manchen Punkten nicht doch eher ein Gewinn und weniger ein Schaden für das heutige Christentum wäre, wenn es mehr „Ketzer“ vom Schlage Albert Schweitzers gäbe?!" (Erich Gräßer) 

Ist dem etwas hinzuzufügen?

Ja, das ist der Geist, der Tat werden darf.  (mpk 2012)  

                                                                                                                                                                                  

                                                                                                                         

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