Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601



Viele Vulnerable, aber Martha beschwert sich nicht
   
Eine biblisch-politische Sozialstudie
zu Mt 11,19.28 und Lk 10,38-42

Heute sitze ich wieder dort. Wie vor fast genau zwei Jahren. Nur diesmal draußen. Mein Fahrrad stelle ich nahe an den Tisch. Ich schließe es nicht ab. Zur Bestellung gehe ich hinein. Pommes mit Krautsalat und ein Glas Retsina sollen es sein. Auch dieses Mal wäre es wieder vegan, wenn nicht nun ein ganzer Klecks Zaziki dazu käme. Die Portion Pommes frites ist jetzt eine Nummer größer. Martha - so nenne ich sie - klärt mich unaufgefordert über den Preisunterschied auf. Statt 1,70 koste die große Pommes 2,30. Da fällt mir meine hungrige Entscheidung leicht. Hinter der Theke blenden mich penibel blankpolierte Edelstahlflächen. Gegenüber sitzt eine Frau. Ich kenne sie vom letzten Mal, aber da häkelte sie kein helles Deckchen. Meine ich jedenfalls. Alles ist korrekt. Aufgeräumt. Mir gefällt das.

Tavernen-Kopfkino-Archiv und Montessori

Martha ist gute 60 und hat nun viel stärkere Hüftprobleme. Wie gesagt, vor zwei Jahren kehrte ich bei ihr das erste Mal als Radtourist ein. Martha betreibt einen griechischen Schnellimbiss in Ostwestfalen. Sie nennt ihr Lokal Taverne. Ich finde, das hat etwas Leichtes. Rankende Weinreben an schattigen Innenhofmauern habe ich vor Augen. Und das Metrum griechischen Tanzes im Ohr. Mein intakter rechter Zeigefinger wippt bereits.

So habe ich nun draußen Platz genommen. Aber ganz ohne Weinreben. Und das mit der Musik ist auch anders. Auf dem Bürgersteig ist hier sowieso alles anders. Auch ganz anders als drinnen vor zwei Jahren. Sofort läuft mein Tavernen-Kopfkino-Archiv: Ich sitze etwas müde vor meinem Teller. Der Krautsalat beschäftigt mich. Er soll in wohlanständiger Bürgerlichkeit auf die Gabel kommen. Ich bin in feinmotorischer Montessori-Stimmung. Jeder Kilometermacher auf dem Rad kennt diese Kontemplation der Pause. Besonders dann, wenn man mit klassischer Wadenzündung fährt. Alles entschleunigt sich noch einmal doppelt. Von 20 über 7 auf 1 km/h.

Anselm Grün am Spielautomaten

Erst jetzt nehme ich wahr, dass sich ein Geldspielautomat in meiner Nähe befindet. Vor ihm steht ein älterer hagerer Mann mit grauem Haar und Bart. Ich sehe ihn von der Seite, er kommt mir irgendwie bekannt vor. Genau, er erinnert mich stark an Anselm Grün. Trüge er nicht die zerzauste Kleidung, hätte es sofort Klick gemacht. Just in diesem Moment sehe ich einen Benediktinermönch im Ornat vor der Glückselektronik.

Beschäftigt sich Anselm Grün nicht auch mit Geld? Hat er nicht beizeiten in Biontech investiert? Und erklärt er diesen Schritt nicht auch mit den Worten Karl Rahners? Dass Denkfaulheit keine Gabe des Heiligen Geistes sei oder so. Ob der Doppelgänger eine Risikostreuung wirklich im Blick hat? Okay, der Geldspielautomat hat nicht direkt etwas mit Aktien zu tun. So schweige ich. Ich will kein Jakobiner sein. Aber mir erscheint in diesem Assoziationsgewitter alles so variabel. Auch Joseph Beuys' Bonmot flackert in der Ferne auf. Die eigentlichen Mysterien fänden doch am Hauptbahnhof statt. Völlig korrekt. Ich ergänze mit „und in der Taverne“.

Corona und Staatsgewalt

Der Anselm am Automaten war aber nur der Anfang. Heute sitze ich ja draußen. An einem von zwei großen Tischen. Drinnen ist's verboten. Coronabedingt. Um vulnerable Gruppen zu schützen. Ich habe an diesem Narrativum heute Zweifel und komme ins Grübeln. Wurden die Bewohner von Altersheimen rechtzeitig und klug geschützt? Dort starben doch die meisten. Polizeibewachte Rodelpisten oder Spielplätze schienen mancherorts vorrangiger. Oder den Spitälern das galante Abrechnen von Intensivbetten und eilfertiger Beatmungen. Oft der Todeskuss für dann einsamste Hochbetagte. So klingelt der Semmelweis-Reflex bis heute. Ach, und überhaupt: Das Wort Minister ist stark verwandt mit dem Wort Ministrant. Dienst ist angesagt. Dienst am Souverän. Der sind wir. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Dem wurden 2020 und 2021 Dutzende Krankenhäuser genommen. Der Gedanke bürstet dann alles noch einmal gegen den Strich.

Corona bringt so vieles auf den Punkt, was zuvor schon war. Letztens habe ich dann noch vom Karl geträumt. Ja, ja, vom Karl. Ich erwachte schweißgebadet. Sorry, das peitscht sich mir durch die Synapsen, als ich da draußen sitze. Ich beruhige mich. Die besonderen Leute hier und der Straßenverkehr lenken mich Gott sei Dank ab. In zwei Jahren wird‘s ohnehin in den Schulbüchern stehen. Diese Messe wird bald gelesen sein.

Vulnerable und Gekennzeichnete

Bei Martha gibt es auch Vulnerable. Mühselige und Beladene, Verletzte, Gezeichnete und Gekennzeichnete sind dort Stammgäste. Sie locken keine touristische Laufkundschaft an. Marthas sauberer Imbiss hätte es gewiss verdient. Vielleicht hatte sie sich das zu Anfang auch anders vorgestellt. Ich frage sie nicht danach. Dieser Teil des Altstadtrandes ist ohnehin prekärer geworden. Mag sein, dass ich ein Spießer bin.

Am Nachbartisch sitzt jetzt eine sechsköpfige Gruppe. Als ich kam, saßen dort nur zwei Männer mittleren Alters. Sie sind seit unbekannter Tageszeit bierselig. Ihr Fortbewegungsmanagement wird beim Gang zum Urinal immer wieder geprüft. Auf den Eingangsstufen besonders streng. Unter dem Tisch liegt auf einem Rucksack ein kleiner Akku-Lautsprecher. Der Bass ist vernehmlich. Ein Ehepaar um die Fünfzig und ein Monteur sind nun dabei. Die Frau lässt eine rauchige Stimme im sonoren Alt erklingen. Von der etwas aggressiven Musik ist nun nichts mehr zu hören. Man gerät ins launige Gespräch, kennt sich seit Längerem. Die Gruppe lockt weitere Bekannte an. So auch einen Briten. Ihm blieb der soziale Aufstieg versagt. Er hat Humor und bringt alle zum Lachen. Es mischen sich englische Wörter ins Gespräch.

Sedierte Hocke

Ein älterer, dünner und etwas dunkelhäutiger Mann kommt näher. Er bewegt sich auffällig langsam. Nun bleibt er mit höflichem Abstand vor meinem Tisch stehen. „Guten Appetit!“, sagt er und raucht weiter. Ich bedanke mich. Er starrt mich eine ganze Weile wortlos an. Ich konzentriere mich auf mein Essen. Dann wendet er seinen Blick wieder ab. Er bewegt sich langsam zum Nachbartisch. Dort geht er zu meinem Erstaunen in die Hocke. Raucht weiter, nimmt aber nicht am Gespräch teil. Minuten später richtet er sich wieder auf. Wie in Zeitlupe verlässt er das Terrain in Richtung Kiosk, der rechts neben der Taverne liegt. Erst jetzt realisiere ich, dass der Typ mächtig sediert ist. Ich bin ein Spätzünder.

Die zwei adipösen Kioskbetreiber werden mit großen Portionen Pommes frites beliefert. Der Vorgang wirkt nicht unüblich. Vor lauter Mayonnaise sind die Pommes nur am Rand der Pappschalen zu erblicken. Die Männer hatten gerade erst Waren aus ihrer silberfarbenen BMW-Limousine entladen. Ich schätze die beiden auf Anfang bis Mitte 20. Sie stehen draußen und beobachten sehr viel. Genauso wie ich. Nur dass ich sitze. Der Kiosk ist ein Anziehungspunkt für junge Männer. Grüßen ist nicht so ihr Ding. Meine Initiative wird homöopathisch erwidert. Viele tragen einen Vollbart. Ihre Freundinnen oder Frauen sehe ich dort nicht. Geschlechterapartheid.

So schön bunt hier

Gerade nähert sich dem Kiosk ein Paar langsamen Schrittes. Es braucht Nachschub. Der Mann fällt wegen seiner Kleidung auf. Unter seiner bräunlichen Weste ist wohl ein sehr unregelmäßig knittriges T-Shirt zu sehen. Es wirkt recht gräulich. Kurz bevor die beiden den Kiosk betreten, wird es für die Betrachter vor der Taverne offenbar: Der Mann trägt unter der Weste keinerlei weitere Kleidung. Das vermeintliche T-Shirt wird auch Gesprächsthema am Nachbartisch. Nina Hagen kreischt in meinem inkorporierten MP3-Player: „Es ist alles so schön bunt hier.“

Ich würde nicht wirklich gerne am Nachbartisch sitzen. Alles andere wäre verlogen. Sozialromantik liegt mir manchmal, aber nicht immer. Doch irgendwie bin ich an einem Kontakt auch ein klein wenig interessiert. Hin und wieder flackert dieser Gedanke auf. Ganz zu Beginn gab’s einen kurzen freundlichen Wortwechsel. Ich hatte mich nach der Musik erkundigt. So bleibe ich dann aber nur neugierig.

Marthas Ministerium

Was mache ich, wenn sich nun jemand an meinem Tisch setzen will? Ich erschrecke, weil ich mich nun selbst vulnerabel fühle. Und das an meinem Tisch. Voll irrational. Fast atme ich auf, als zwei Stühle von mir freundlichst erbeten werden. Die Nachbarrunde wird noch einmal erweitert.

Martha und ihre Gehilfin arbeiten und bedienen ohne Unterlass. Martha beschwert sich nicht. Auch nicht, wenn sie immer wieder die Eingangsstufen bewältigen muss. Ob sie Schmerzen hat? Beim Bezahlen plaudern wir noch ein wenig. Auf ihre Beschwerden kommen wir nicht zu sprechen. Sie klagt ja auch nicht. Ihre Taverne ist ein Ministerium. Zaziki und Krautsalat seien selbstgemacht. Stolz kommt in Blick und Stimme auf. 

© Matthias Paulus Kleine – 21. Juli 2021

-----------------------------------------------------------------------------

Mt 11,19
Seht, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern!

Mt 11,28
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

Lk 10,38ff
Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf, und eine Frau mit Namen Marta nahm ihn auf. Und diese hatte eine Schwester mit Namen Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz mit der Bewirtung beschäftigt. Sie kam nun zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Bewirtung mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie solle mir zur Hand gehen. Der Herr aber antwortete ihr: Marta, Marta, du sorgst und mühst dich um vieles; doch eines ist nötig: Maria hat das gute Teil erwählt; das soll ihr nicht genommen werden.

(Hinweis: Martha kann man mit und ohne h schreiben.)

                                                                                                                        

zurück