Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

- Was sehe ich alles? Gehe im Bild spazieren! Beschreibe! Keine Vermutungen!
- Wie
ist das Bild gebaut? Was ist rechts, links, oben, unten, im
Vordergrund, im Hintergrund, wo sind welche Farben? (Formenanalyse)
- Was löst das Bild in mir aus? Was zieht dich an und lockt dich? Was ist abstoßend oder störend?
- Was hat das Bild zu bedeuten? Woher kenne ich das sonst noch? Jetzt sind Vermutungen erlaubt.
Zahlreiche Bemerkungen zielten nicht nur auf die Flügel, sondern auch auf die Kleidung. Dass der untere Engel, der in Wahrheit eine beschädigte Gipsskulptur mit Flügelrudimenten darstellt und dem Licht abgewandt steht, seine neue Nacktheit durch das hilflose Klammern an seine Kleidung zu kaschieren versucht, wurde mehr und mehr deutlich. Der obere Engel hat damit keinerlei Probleme, seine Kleidung wird durch einen einzigen Gurt aus Stoff gehalten, obwohl er sich bewegt. Seine Art des Schwebens und Gleitens war allerdings für einige Schülerinnen und Schüler nicht unmittelbar zu erfassen. Die linke Hand weist zwar in die Höhe und auf etwas anderes, aber die grazile, fast gabelartige Fingerhaltung seiner rechten Hand gab vielen ein Rätsel auf. Solch eine Hand in Schwerelosigkeit hatte man noch nicht gesehen.
Triegels Engel kokettiert mit der Mehrdeutigkeit. Fragen werden offensichtlich bewusst gestellt. Durch die Möglichkeit vielfachster Beantwortungsmöglichkeiten ergibt sich der Eindruck: Das Bild stellt mehr Fragen als es Antworten zu formulieren in der Lage ist. Allein der Titel "Engel" ist offen. Ist's im Singular oder im Plural? Zählt überhaupt der Skulpturenengel als Engel im engeren Sinn?
Auch die Bezugsebene ist uneindeutig: Kommunizieren beide
Engel miteinander? Oder ist hier von einem Boten Gottes (oder des
Transzendenten) die Rede, der den Betrachter linkisch und eindeutig zugleich auf
etwas hinweisen möchte und den Skulpturenengel lediglich als übles Anschauungsbeispiel
nutzt? Wird also eher der Mensch in seinem Trachten und Verhalten gespiegelt?
Wem gilt der Fingerzeig der linken Hand? Dem Betrachter oder der Skulptur, die
alles Verlorene noch festzuhalten gewillt ist. Oder ist der Skulpturenengel lediglich
die traurige Metapher menschlicher Existenz, die alles krampfartig perpetuieren
möchte und es doch nicht kann? So kann man nicht umhin, Moralisches mit Hilfe dieser Bildkomposition
zu assoziieren.
Der Kick mit dem Fuß: Statisches mit Action
Etwas Befreiendes brachte ein Schüler mit seiner ganz spezifischen Art und Weise auf den Punkt. Sein Kommentar: "Der eine Engel gibt dem and'ren Engel 'nen Kick".
Man muss kein Mäeutiker sein, um festzustellen, dass sich der Schüler auf einer konstruktiven Denkstraße befand. Und das ungeachtet der Tatsache, dass wir alle erst einmal herzlich lachen mussten. In der Tat befindet sich das rechte Knie des Engels am Kinn des Skulpturenengels. Der Unterschied in der Tiefe der Darstellung, also der Anmutung von Vorder- oder Hintergrund gerät dabei aus dem Fokus. Plötzlich waren wir frei, die insinuierte Bewegung des Dargestellten neu wahrzunehmen.
Der Schüler stellte mit seinen Worten lapidar fest, dass beide
Figuren komplementär zu betrachten und dramaturgisch eng miteinander verwoben
sind. Beide sind eins und zugleich fundamental unterschiedlich. Das ist Action pur, obwohl die Skulptur in ihrer Statik gefangen scheint und lediglich - dem Betrachter zugewandt - den Kopf leidvoll neigt, während der obere Engel die Leichtigkeit schwerelos anmutender Vitalität sein Eigen nennt.
In mancherlei Hinsicht mag Triegels kontrastierende
Dramatik aus Alt und Neu, aus Vitalität und Morbidität an die zwei mittigen Handpaare von Albrecht Dürers
Werk "Der zwölfjährige Jesus unter den Schriftgelehrten" von 1506
erinnern. Ganz ähnlich wird dort durch die aufeinander bezogenen und sich
ergänzenden Hände eine Ebene kreiert, die Verbindlichkeit und Beziehung
trotz aller Unterschiedlichkeit herstellt.