Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601


 
 

Tacheles zu
Elisa Rheinheimer-Chabbis Kommentar "Kopftuchverbot: Empörendes Urteil" oder: Stellen Religionsdialog-Amateure liberale Muslime ins Abseits?

(Online-Version unter https://www.publik-forum.de/Politik-Gesellschaft/kopftuchverbot-empoerendes-urteil - mittlerweile zugangsbeschränkt)

* Intellektuelle Pirouetten der Autorin – auch auf der Skipiste
* Brisanz für den deutschen Arbeitsmarkt durch Einbezug der Riten
* Kopftuchtragenden Musliminnen mit Respekt begegnen
* Geschlechterapartheid mit Aufforderungscharakter
* Kategorienfehler: Vergleich des islamistischen Kopftuchs mit dem Kreuz
* Indikator Kopftuch: Machtgewinn des politischen Islam
* Too much: Temperantia entscheidet
* Sawsan Chebli und die Scharia: Liberale Muslime im Abseits
* Herrschaftsreligionen, Geburtsfehler und Gottesvergiftungen
* Kreuz als Corporate Design Europas
* Summa summarum: Förderung liberaler Muslime vonnöten

Elisa Rheinheimer-Chabbi echauffiert sich über die beiden sog. Kopftuch-Urteile des EuGH vom 14.03.2017, die für muslimische Kopftuchträgerinnen wegen des erlaubten Betriebslaizismus in privaten Unternehmen maßgeblich sein werden: Musliminnen kann das Tragen eines Kopftuches während der Arbeitszeit untersagt werden, insbesondere dann, wenn sie eine Tätigkeit mit Publikumsverkehr ausüben und die Regelung bereits bei der Einstellung bekannt war. Dieses Verbot stelle
laut EuGH keine Diskriminierung dar.

Rheinheimer-Chabbi bezeichnet "das Urteil" als empörend.

Die zahlreichen Details der zwei Urteile sind für die an der Jurisprudentia Interessierten hier nachzulesen: https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=EuGH&Datum=14.03.2017&Aktenzeichen=C-157%2F15 

Es ist zurückzufragen: Hat Rheinheimer-Chabbi nicht gar selbst ein empörendes Urteil über die beiden Urteile verfasst? Leider zeigt der Kommentar eine sehr schwache Seite der grundsätzlich empfehlbaren linkskatholischen Zeitschrift Publik-Forum auf, die der Verfasser dieser Zeilen seit Jahren abonniert hat. Frau Elisa Rheinheimer-Chabbi setzt schlichtweg eine falsche Prämisse, die sich in diesem Satz offenbart: "Dass das Kopftuch von einer Mehrheit der Muslime als religiöse Pflicht angesehen wird und schon deshalb mit anderen religiösen, philosophischen oder politischen Bekundungen schwer vergleichbar ist, wird vom Gericht ganz ausgeklammert."

Der dem Projekt Weltethos verpflichtete Theologe Hans Küng sei hier erwähnt, um die Dinge sachlich zu ordnen. Küng zitiert zum Thema Kopftuch die Arabistin Jacqueline Chabbi (sie ist bitte nicht mit Elisa Rheinheimer-Chabbi zu verwechseln) subsummierend: "Der angeblich islamische Schleier kann sich in keiner Weise auf eine Koran-Stelle stützen." Küng betrachtet das Kopftuch als "Symbol religiös-politischer Gesinnung", das "zweifellos eine fragwürdige politische Botschaft" transportiere, die mit der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung von Frauen in Widerspruch stehe.

Küng pointiert deutlich: "Seit das Kopftuch von Islamisten politisch instrumentalisiert wird, muß jede Muslimin in Europa oder Amerika, die ein Kopftuch trägt, damit rechnen, daß der Großteil der Zeitgenossen sie als Sympathisantin, wenn nicht Parteigängerin des Islamismus einstuft, wie auch immer sie ihr Kopftuch versteht."

Wir kommen darauf noch ausführlich zurück.

Intellektuelle Pirouetten der Autorin – auch auf der Skipiste

Rheinheimer-Chabbi erweist nicht nur allen moderaten Musliminnen, die mit reflektiertem Recht ohne Kopftuch auskommen können, einen schlechten Dienst. Die Autorin favorisiert mit ihrer sicherlich falschen Mehrheitseinschätzung der muslimischen Kopftuchträgerinnen eine einzige von mehreren Interpretationen des Islam. Möchte sie eine konservative oder vielleicht auch fundamentalistische Lektion in Sachen Wie erkläre ich mir und anderen den Islam erteilen? Warum leistet sie sich den für ihre Verhältnisse ins Auge springenden Gender-Fauxpas, dass nur Männer ("Mehrheit der Muslime") die religiöse Kopftuchpflicht aussprächen? Rheinheimer-Chabbis tendenziöse Grundannahme verstört.

Eine unglaubliche intellektuelle Pirouette dreht Frau Rheinheimer-Chabbi indes mit der Frage: "Wann ist endlich Schluss damit, dass Männer meinen, über den Kleidungsstil und das Auftreten von Frauen urteilen zu dürfen?" Nota bene: Sie scheint diese Frage tatsächlich an den EuGH zu richten, obwohl dort auch Frauen an den beiden Urteilen mitgewirkt haben. Hat sie recherchiert? Und überhaupt: Diese Helikoptermoral zeigt wenig Empathie. Die Frage dürfte doch sicherlich eher muslimischen Männern gestellt werden. Gleichwohl ignoriert Rheinheimer-Chabbi den Umstand, dass gerade Mütter starken Druck in puncto vorgeblich züchtiger Kleidsamkeit ausüben.

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Matthias Paulus Kleine

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Aber dessen nicht genug: Elisa Rheinheimer-Chabbi bemüht bizarre Vergleiche, die bis zur Fassungslosigkeit irritieren können und durchaus eine übersichtliche Informiertheit vermuten lassen. So antwortet sie allen Ernstes einem – an ihrer Sicht der Dinge Zweifel anmeldenden – Leser auf dessen Online-Kommentar hin mit folgenden Worten:

"Es geht hier wohlgemerkt nicht um das Tragen einer Burka oder Niqab, es geht um das Kopftuch. Und das ist kein Kleidungsstück, das "unkenntlich" macht, wie Sie es nennen. Oder finden Sie es im Winter auf der Skipiste ebenso abstoßend, dass Sie die Haare der Skifahrerinnen nicht sehen können, weil diese unter einer Mütze oder einem Helm verborgen sind?"

Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Ein Beispielfoto (
https://image.stern.de/7470336/16x9-2048-1152/87ab6268c435644eb51d0822e8c68826/DB/gruppenfoto-nato.jpg) kann veranschaulichen, wie grotesk Rheinheimer-Chabbi mit ihrem Kategorienfehler die Wahrnehmung zu verweigern scheint. Es ist wohlwollend anzunehmen, dass die Autorin durchaus zu einer reiferen Verstandesleistung in der Lage gewesen wäre.

Brisanz für den deutschen Arbeitsmarkt durch Einbezug der Riten

Interessant und weithin – auch in Rheinheimer-Chabbis
wohl unterkomplexen Rationalisierungen – unbeachtet bleibt, dass der EuGH in den Urteilen von "Verschleierung" spricht und auch die mit der Religion einhergehenden Riten thematisiert, die bislang in einem deutschen Sonderweg (AAG/Allgemeines Gleichstellungsgesetz) geduldet wurden und den jeweiligen Arbeitgeber finanziell erheblich belasten können (tägliche Gebetszeiten, Freitagsgebet, Minderleistung während des Fastenmonats Ramadan, Weigerung des Transports etc. von Schweinefleisch und/oder Alkohol). Das bedeutet zukünftiges Konfliktpotenzial.

Kopftuchtragenden Musliminnen mit Respekt begegnen

Ohne Frage sprechen die beiden EuGH-Urteile eine aktuelle Sprache, sie hängen nicht im luftleeren Raum. Anderes zu vermuten, wäre sehr naiv. Die Urteile berühren Grundsätzliches und Alltägliches zugleich, deswegen erregen sie dermaßen große Aufmerksamkeit.

So stellen sich Fragen: Was veranlasst Verantwortliche in Personalabteilungen, kopftuchtragenden Musliminnen – hoffentlich mit Respekt – zu begegnen, mitnichten jedoch zuzulassen, dass sie im Europa des 21. Jahrhunderts deutliche Anachronismen an betrieblichem Ort pars pro toto bewerben dürfen? Ist es die pure betriebswirtschaftliche Angst vor einer Fremdenfeindlichkeit der Kundschaft, die durch ausbleibenden Umsatz die Gewinnmaximierung in unerwünschte Tiefen steuern könnte? Oder ist es die Weigerung, sich mittelbar zum Türöffner einer inkludierten und im Verhältnis zu unserem Weltverständnis sperrigen bis verneinenden Botschaft machen zu lassen? Kurzum: Was treibt Unternehmensverantwortliche zum Betriebslaizismus?

In der Tat liegen die Beweggründe auf der Hand: Man befürchtet Ressentiments sowohl in der Belegschaft als auch im potenziellen Kundenkreis wegen assoziierter (und womöglich unberechtigter) Plakatierungen wie Unterdrückung von Frauen, Patriarchalismus und Machogehabe, archaische Vorstellungen von Unreinheit, Jungfrauenfetischismus, Zwangsheiraten, "Ehrenmorde", Dualismus von Gläubigen und "Ungläubigen", Fatwa mit Morddrohung, behauptete Maßgeblichkeit der Scharia vor staatlichen Gesetzen, Homophobie, Antisemitismus, Gewaltaffinität bis hin zum Terror und Bildungsferne. Ob diese Assoziationskette mit all den Zuschreibungen auch nur ansatzweise Berechtigung hat, mag völlig dahingestellt bleiben. Allein eine einzige davon könnte einem Unternehmen kommerziell abträglich sein und/oder den Betriebsfrieden stören.

Gleichwohl mag es auch Unternehmer geben, die Werte (z.B. den der erkämpften Gleichberechtigung von Mann und Frau), mit denen sie sich weltanschaulich-kulturell identifizieren, verteidigen möchten. So kann ein betriebliches Kopftuchverbot als Statement zugunsten einer mittlerweile selbstverständlichen Emanzipation von Frauen verstanden werden.

Geschlechterapartheid mit Aufforderungscharakter

Das Kopftuch repräsentiert weithin eine beachtliche Geschlechterapartheid und Anti-Emanzipatorisches einer Binnenwelt, die vormodern strukturiert ist und insofern umso mehr als gottgegeben zu begründen versucht wird. Hamed Abdel-Samad fasst die Bedeutung der Verhüllung auf der Ebene der personalen und gesellschaftlichen Kommunikation zusammen: "Der Schleier ist nicht nur Zeichen des Misstrauens, das die Frau der Außenwelt gegenüber an den Tag zu legen hat, sondern auch Zeichen des Misstrauens des Mannes gegenüber seiner Frau."

Die ideologische Geschlechtertrennung (gemeinhin mit Sure 4,34 begründet) zeitigt beachtliche Ergebnisse:
http://www.rnz.de/nachrichten/mannheim_artikel,-Mannheimer-Arbeitsgericht-Muslimische-Pflegekraft-klagt-gegen-Kuendigung-_arid,263516.html

Das Koedukative ist ihr fremd. Man kann es tagtäglich im Erziehungswesen erleben: hier der entgrenzte Junge, dort das züchtige, aber die weiteren Umstände mitunter kaum ertragende Mädchen. Wer die Szenerie kennt, dem sind auch - im Kontrast zum Söhnchenkult und über das Phänomen Schwimmunterricht hinaus - nach Schulschluss zu Hause mehr oder weniger eingesperrte junge Frauen durchaus nicht unbekannt.

Es ist des Weiteren zur Kenntnis zu nehmen, dass die Verhüllung als deutlich sichtbares Zeichen instrumentalisiert wird. So hat es hohen Aufforderungscharakter: Das Kopftuch wird als umfängliches gesellschaftspolitisches Statement gegen sog. westliche Werte wahrgenommen; in ihm manifestiert sich tendenziell ein politischer und fundamentalistischer Islam, wie wir ihn seit 1979 mit Khomeini wahrzunehmen haben. Andere Sichtungen erlauben den Vorwurf der Naivität.

Emine und Sumeyye Erdoğan veranschaulichen heute prominent diese Kopftuchbotschaft. Scheinbar nebenbei werden absurd erscheindende Verklärungen und Rechtfertigungen für die massive Benachteilung von Frauen in Geschichte und Gegenwart abgegeben (z.B. Erbrecht, Harem und dergleichen). Die Strategie dieser Allianz ist recht schlicht: gezielte Tabubrüche bei bisherigen Vereinbarungen und eine sich potenzierende Prägung des öffentlichen Lebens.

Eine reflektierte und sich aufklärerisch reformierende Version des spirituellen Islam könnte dem Einhalt gebieten. Ihr ist im Gegensatz zu politisch-fundamentalistischen Strömungen eher selten zu begegnen. Sicherlich könnte man das soziologisch und insofern milieuspezifisch mit einem Bildungsfremdeln plausibel erklären. Aber auch im Hochschulbereich hat sich tendenziell eine lediglich rezipierende islamische Theologie positioniert; entwickelnde oder gar vorantreibende Impulse sind eher eine Ausnahme, kritisch-historisches Herangehen impliziert gar die Anmutung des Tollkühnen und evoziert nahezu Polizeischutz. Fazit: Die europäische und aufgeklärte Variante des Islam fehlt.

Kategorienfehler: Vergleich des islamistischen Kopftuchs mit dem Kreuz

Immer wieder wird die Zweckbehauptung in den Raum gestellt, dass bei einem Kopftuchverbot auch das Tragen eines Kreuzes an der Halskette nicht angemessen sei, wenn man denn – unter dem Anspruch der weltanschaulichen Neutralität – gerecht sein wolle. Auch der EuGH argumentiert in dieser Weise: "Zweitens ist zur Angemessenheit einer internen Regel wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden festzustellen, dass das Verbot für Arbeitnehmer, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet ist, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird (…)."

Diese Sicht ist problematisch, auch wenn sie zunächst formaljuristisch nachvollziehbar erscheint: Ein Kategorienfehler dürfte verantwortlich sein, denn hier werden Äpfel mit Erdäpfeln verglichen, weil doch das Wort Apfel jeweiliger Bestandteil ist. Im Gegensatz zum Halskettenkreuz kommuniziert das islamistische Kopftuch weitreichende und bereits wahrzunehmende gesellschaftliche Folgen, die als regressiv deutbar sind.

Indikator Kopftuch: Machtgewinn des politischen Islam

Die lesenswerte Diplomarbeit von Birgit Falter mit dem Titel "Die Rechte der Frau in der Türkei", die im Auftrage der Menschenrechtsorganisation Human Rights International (HRI) im Jahre 2006 erstellt wurde, veranschaulicht die Brisanz der Lage, die bereits zu diesem Zeitpunkt zu beobachten war.

Ab Seite 73 geht Falter detailliert auf die fundamentalistische Politisierung der Religion seit den 70er Jahren ein. Auf Seite 82f fasst sie ein Zwischenergebnis konziliant zusammen:

"Das Ziel der islamischen FundamentalistInnen ist die Errichtung eines islamischen
Staates unter der bedingungslosen Einhaltung der islamischen Regeln und unter der Führung eines berufenen religiösen Führers. Rechtsgrundlage bildet die Scharia, die von islamischen Rechtsgelehrten geschaffen wurde. Ihre Grundlage bildet zwar der Koran, doch wurden seiner Auslegung jegliche moderne Ansätze entzogen. Wie in anderen Religionen ist auch im Islam der Fundamentalismus von einem gewissen Antimodernismus geprägt ist. Dieser macht sich in der Ablehnung der Grundnormen der heutigen Zeit, wie Demokratie, Menschenrechte oder Toleranz und des modernen Lebensstils bemerkbar. […] Der islamische Fundamentalismus wird auch als patriarchalische Protestbewegung bezeichnet, in der gewisse Aspekte der Moderne bekämpft werden. Diese Auffassungen betrifft die Frau, deren Leben auf die traditionell häusliche Rolle beschränkt wird. Diese islamistische Ideologie, die die Rückkehr zum ursprünglichen Islam zum Ziel hat, wird auch als "Islamismus" bezeichnet. Der Wirkungsbereich des Islamismus bleibt nicht auf die gesellschaftliche Ebene begrenzt. Da der Einfluss auch in den politischen Bereich reicht, wird er auch als "politischer Islamismus" oder "politischer Islam" bezeichnet."

Zur Bedeutung des Kopftuches schreibt Falter auf Seite 92 in deutlicher Form: "Das Kopftuch der jungen Türkinnen ist jedoch nicht nur ein Hinweis auf Religiosität, sondern steht auch für den politischen Islam. Das Ziel der islamistischen Bewegungen ist es, sich vom Westen abzugrenzen. Diese Ablehnung und Abgrenzung wird am Erscheinungsbild der Frauen sichtbar. Die zunehmende Zahl der „neuen“ Kopftuchträgerinnen ist somit für die IslamistInnen ein Indikator für ihren Machtgewinn innerhalb der Bevölkerung."

http://www.humanrightsinternational.org/uploads/media/Diplomarbeit_Falter.pdf 

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2017. Was müsste Frau Falter heute schreiben?

Too much: Temperantia entscheidet

Dem Kreuz fehlt heute der ansprüchliche politische Impetus eines Integralismus. Das ist gut so. Es ist als freiwilliger Kleidungszusatz in seiner Aussage mehrdeutig, offen und zugleich für das Christentum ohne einen diskriminierenden Geschlechterbezug identifizierend. Beim Betrachten weiß man nicht, in welche Richtung es genauer weisen soll; es könnte von subversiv bis konservativ alles möglich sein und würde sich sicherlich erst in Abhängigkeit vom sonstigen Habitus des Tragenden vage einordnen lassen.

All das gestaltet sich beim fundamentalistischen Kopftuch anders: Der Alltag der Kopftuchträgerin ist grundsätzlicher definierbar. Diese Version der Verschleierung wird weithin mit ideologischer Resonanz wahrgenommen, wie auch die jüdische Kippa in Kombination mit Hut, Bart und Schläfenlocken oder der russland-deutsch freikirchliche Schleier mitsamt langem Rock sofort deutlichere Inhalte transportieren und die mögliche Rivalität mit den Errungenschaften einer aufgeklärten und freien Gesellschaft andeutet.

Demgegenüber erscheint eine Halskette mit Kreuz zu marginal und auch zu positiv besetzt, als dass man sie allen Ernstes mit dem islamistischen Kopftuch vergleichen könnte. Das Maß, die offensichtliche Temperantia der mitschwingenden gesellschaftsrelevanten und vor allem politischen Konnotationen entscheidet hier erheblich über die determinierende Botschaft. Unternehmen dürfen ein Interesse daran haben, das Too Much des Kopftuches zu regeln, zu unterbinden und sich für dergleichen nicht instrumentalisieren zu lassen. Es ist gut, dass dieses Recht durch den EuGH noch einmal dargestellt und ins Bewusstsein geholt wird.

Sawsan Chebli und die Scharia: Liberale Muslime im Abseits

Selbstverständlich geraten wir mit derlei Befunden über weltanschauliche Zeichen in den Bereich der ethischen Wertsetzungen. Maßstab bleibt indes, inwiefern die Botschaften mit dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind. Das islamistische Kopftuch wird oftmals zusammen mit einem archaisch-alternativen Gesellschaftsentwurf rezipiert. Dabei werden erschreckende fundamentalistische Hypothesebildungen der bekannten Art billigend miteingeschlossen; dieses dürfte die Vereinbarkeit mit den Grundwerten westlich-demokratischer Gesellschaften als sehr erörterungswürdig erscheinen lassen.

Verba docent exempla trahunt: Sawsan Chebli,
ehemalige und fachlich umstrittene Sprecherin von Frank Walter Steinmeier - derzeit gutbezahlt im Berliner Senat tätig - wirft weitreichende Fragen auf. So wird der Reüssierten offensichtlich auch parteiintern und auch von muslimischer Seite (sic!) vorgehalten, sich nicht hinreichend kritisch zum Islamismus positioniert und zugleich vermehrt kopftuchtragende Frauen in die Partei geholt zu haben.

Cheblis Bemerkung (im Beisein des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller), dass sie hinsichtlich der Kompatibilität von Scharia und dem Grundgesetz der BRD kein wirkliches Problem feststelle, ist mittlerweile sehr bekannt. Dabei sollte sie lediglich Stellung beziehen ob der Tatsache, dass immer mehr muslimische Jugendliche der dritten Generation im Zweifelsfall die Scharia
dem Grundgesetz überordnen würden. (Zur Erklärung: Die Scharia ist als nicht kodifizierte Normenlehre und - findung des Islams zu verstehen.) Cheblis spätere Relativierung dieser beachtlichen Scharia-Justifikation überzeugt nicht jeden; in allem klingen ihre Einlassungen nicht nach einer rationalisierten kritischen Durchdringung. Im Gegensatz zu Sawsan Chebli tragen ihre fünf Schwestern und ihre Mutter dem Vernehmen nach ein Kopftuch. Es stellt sich die Frage, ob deren Statements akzeptabler wären.

Apropos Akzeptanz: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) stuft die Scharia als unvereinbar mit gültigen Rechtsvorstellungen ein. Auffällig bis beunruhigend bleibt, dass gezielt wirkende Tabubrüche à la Chebli zugunsten eines Fundamentalismus sich mehr und mehr etablieren. Sie manövrieren liberale Muslime ins Abseits: Man ist geneigt zu behaupten, dass sich der Marsch durch die Institutionen längst im Da capo befinde.

Herrschaftsreligionen, Geburtsfehler und Gottesvergiftungen

Wir leben im Jahre 2017 mit all den Früchten einer abendländischen und multikulturellen Geistesgeschichte, in der man sich mühsam befleißigte, sich vom Phänomen der Herrschaftsreligionen jedweder Art reflektiert zu distanzieren. Insofern ist der Erhalt unseres aufgeklärten Gemeinwesens mit seinen begrüßenswerten Säkularisaten zu wünschen. Es hat seine Vernunftorientierung nicht nur dem 18. Jahrhundert mit den Herren Kant, Lessing, Rousseau und Voltaire zu verdanken. Die Emanzipation der Philosophie von der Theologie begann in Europa bereits mit der Bildungsoffensive des 12. Jahrhunderts, eine zweite folgte durch den Humanismus im 15./16. Jahrhundert. Gottesvergiftungen – mit diesem Terminus sei an Tilman Moser erinnert – sollten nach all den Bemühungen der Vergangenheit angehören. Gewiss ist dies ein frommer Wunsch.

Weiterführende Gedanken zu Herrschaftsreligionen und dem Geburtsfehler in der Genese des Islam mag man für das weitere kognitive Ungleichgewicht auf der folgenden Seite finden: http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=4326213

Der deutsch-algerische Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi greift derartige Diskussionsimpulse konstruktiv auf, indem er das Hauptproblem dem „hagiografisch dogmatisierten Prophetenbild“ zuordnet und eine Aufarbeitung im Sinne der Aufklärung anmahnt. Drei – im Zusammenhang mit der Verteidigung eines Buches geäußerte – Zitate lassen aufhorchen:

  •  "Niemand verteidigt heutzutage den Islam und die Muslime heftiger als westliche Konvertiten und Religionsdialog-Amateure."
  • "Wir Muslime sollten keine Angst vor Kritik haben, denn fundierte Islamkritik bedeutet nicht Ablehnung unserer Religion, sondern ist eine emanzipatorische und herrschaftskritische Notwendigkeit."
  • "Gefragt sind humanistisch gesinnte Muslime, die klären und aufklären."

http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-12/hamed-abdel-samad-islamkritik-buch/komplettansicht

Traditionell gehört die Religionskritik zum Metier politisch links-liberaler Kräfte. Sie sollten den fundamentalistischen Islam nicht davon dispensieren. In beeindruckender Weise widmet sich der Grünen-Politiker Cem Özdemir dieser Stoßrichtung, wenn er einen reformierten Islam fordert.

http://www.sueddeutsche.de/politik/parteitag-der-gruenen-warum-eine-kritische-haltung-zum-islam-den-gruenen-gut-tut-1.2748084

Kreuz als Corporate Design Europas

Das Kreuz kann als Corporate Design des jüdisch-christlichen Abendlandes mit all seinen Brüchen und Kontinuitäten verstanden werden.
Einerseits ist es bedauerlich, dass der EuGH mit den Kopftuch-Urteilen das Kind mit dem Bade ausschüttet und dieses Corporate Design im Alltäglichen mittelbar beschränkt. Andererseits verfolgt er damit jedoch ein höheres Ziel, nämlich den islamischen resp. islamistischen "Intégrisme" (Abdelwahab Meddeb) an einer symbolträchtigen Stelle in seine Schranken zu weisen.

Ein paar gedankliche Anstöße zum
Corporate Design mögen hier zu finden sein:

Campingplatz & Brüssel: Das Kreuz mit dem Kruzifix

Vor langer Zeit hatte ich Kontakt zur katholischen deutschsprachigen Gemeinde Brüssels, deren Gast ich auch sein durfte. Viele Jahre später traf ich auf einem südfranzösischen Campingplatz eine Familie dieser Gemeinde. Der Pater familias war "bei der EU beschäftigt". Wohl auf einer etwas bedeutenderen Ebene der Verwaltung, wie es zunächst gar nicht zu vermuten war. Während eines abendlichen Beisammenseins wollte mir das genannte Oberhaupt der einladenden Familie doch allen Ernstes …
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Summa summarum: Förderung liberaler Muslime vonnöten

Eine europäisch-aufgeklärte Variante des Islam, die den geforderten Betriebslaizismus des EuGH gelassen akzeptieren könnte, lässt auf sich warten. Wir befinden uns in einem unübersichtlichen Klärungsprozess, in denen reformaffine Muslime nicht hinreichend beachtet werden. Aus Gründen der sog. politischen Korrektheit scheinen zuvörderst konservativ-fundamentalistische Muslime und deren religiöse Verbände angesprochen zu werden.

In diesem Modus wurden bislang vor allem rückständige Muslime hoffiert. Honorigen Initiativen wie die der muslimischen Frauenrechtlerin und Imamin Seyran Ates gebührt indes Respekt und nachhaltige Förderung.

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/seyran-ates-warum-die-frauenrechtlerin-eine-moschee-gruendet-a-1151177.html

http://taz.de/Liberale-Moschee-von-Seyran-Ates/!5422953/

Sogenannte Leitkulturdebatten stellen den unreflektierten und unbeholfen anmutenden Versuch dar, ein deutliches Bekenntnis zu
europäischen Werten und die Reform des Islam im Sinne der Aufklärung einzufordern, ohne allerdings das Kind beim Namen zu nennen und auch das notwendige Handwerkszeug für einen Diskurs bereitzuhalten. Oftmals geschieht dieses Ringen um einen Wertekanon auch ohne ein Wissen um die eigene jüdisch-christliche Identität, die sich durch die Inkulturation innerhalb der antiken Geisteswelt formen ließ. Es ist in diesem Zusammenhang sehr zu bedauern, dass sich der Islam von dieser dialektischen Osmose, in die er zunächst durchaus miteingebunden war, bereits ab dem 12. Jahrhundert mehr und mehr abgewandt hat. So fehlt ihm heute weithin eine Hermeneutik auf der Höhe der Zeit.

Den beiden initiativen Klägerinnen und Unternehmen ist für die nachhaltigen Klärungsimpulse des EuGH bezüglich der stoffgewordenen politischen Botschaft Kopftuch zu danken. Auch wenn sich Frau Elisa Rheinheimer-Chabbi mit ihrem Argumentationsansinnen vermutlich eher für einen fundamentalistischen Islam ins Zeug zu legen scheint, so darf man sich bei ihr für den Anstoß zu einer bewusstseinserweiternden Erörterung ebenfalls zu Dank verpflichtet sehen. 

Es bleibt festzustellen: Fundamentalistisch anmutende Bemühungen durch "Religionsdialog-Amateure" sind kontraproduktiv und fallen fortschrittlichen Muslimen in den Rücken. 

© mpk/Juni 2017
 
Literaturempfehlung: Hans Küng: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. 4. Auflage. Piper, München 2010  


                                                                                                                         

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