Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601



 Text im Schreibprozess 


Meine Allererste: Die Heidenreich-Orgel zu Kirchahorn

Autobiographische und organologische Notizen zur ersten Begegnung mit einer außergewöhnlichen Klangzeugin

Die Familienurlaube mit meinen Eltern hatten in den Siebzigern immer ein Ziel: Kirchahorn. Ein oberfränkisches Dorf, 22 Pkw-Kilometer südwestlich von Bayreuth gelegen. Im Gasthof der Familie Hofmann mit dem Namen "Fränkische Schweiz" gut untergebracht und hervorragend bewirtet, waren diese Aufenthalte ein sommerliches Sehnsuchtsritual. 

Der mütterliche Teil meiner Familie stammt aus Oberfranken. Es wäre an dieser Stelle recht müßig, die Beziehung im Genaueren darzulegen, die meine Familie mit diesem Ort verbindet. Sie ergab sich schlussendlich durch meine Großmutter – die mir den Klavierunterricht empfahl und gönnte – und den Sozialdemokraten Max Fischer, der in Kirchahorn einst Oberlehrer war, in verwandtschaftlicher Hinsicht. Letztlich stelle ich aber fest: Das Phänomen "Kirchahorn" gehört zu meiner kulturellen DNA, und das hat einen besonderen Grund. Er ist musikalischer Natur.

Eine launige Idee

Während der genannten Ferientage kam ich als Zwölfjähriger auf die launige Idee, die dortige Orgel der evangelischen Kirche zu erkunden. Irgendwie muss sie mich absolut angezogen haben. Die Glocken waren das eine, was mich triggerte. Aber der Orgelklang schien mir doch steuerbarer, ja gestaltbarer zu sein.

Mein kriegsversehrter Klavierlehrer Heinz Beekmans war vor seinem Ruhestand Organist und Chorleiter, das wusste ich, aber das Instrument Orgel war bis auf eine einzige Gelegenheit, in der ich stolz eine Orgelschallplatte mitbrachte und zeigte, nie das Thema. Er reagierte recht zurückhaltend. Vielleicht hat es ihn auch zu sehr geschmerzt, da das verlorene Bein wahrlich ein existenzieller Verlust für ihn als Organisten war. Die Schallplatte entstammte übrigens der Sammlung meines Vaters. Ich erinnere mich auch gut daran, dass wir nach der Messe oftmals sitzen blieben, um das Orgelnachspiel aufmerksamer zu hören. Mein Vater hatte also alles richtig gemacht. 

Purer Kairós

In meiner Heimatkirche St. Pankratius zu Bockum-Hövel konnte man die Organistin, die Musiklehrerin Helene (gen. Leni) Schulze-Everding, am Spieltisch beobachten. Er stand zunächst vorne rechts mit einem lustigen Sichtschutz und dann für lange Zeit links völlig einsehbar in der Nähe des Altars. Wenn einmal ein anderer Organist seinen Dienst versah und bei einer Forte-Registrierung mit merklich mehr oberkörperlichen Bewegungen "in die Tasten haute", war es für mich eine Attraktion. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass derlei turnerische Verrenkungen bei einer Orgel gar keinen klanglichen Effekt haben. 

Kurzum: Eine Orgel war für mich ein Faszinosum, das ich erforschen wollte. Und die Gelegenheit schien in Kirchahorn äußerst gut zu sein. Purer Kairós. Nicht ohne Grund hat dieser mythische Geselle einen kahlen Hinterkopf und – man übersieht es gern – Flügel an den Fersen.

Allen Mut zusammengenommen klingelte ich an der Tür des evangelischen Pfarrhauses. Daran führte kein Weg vorbei, die Kirche St. Michael und Jakobus war zwar geöffnet, die Empore zugänglich, aber der Spielschrank der Orgel unbarmherzigst verschlossen. Ich kann mich daran erinnern, dass gutes Wetter war, an meine Worte indes nicht. Sie müssen wohl aber zielführend gewesen sein. Der Pfarrer drückte mir nach einem freundlichen und unverhofft kurzen Gespräch einen erschreckend riesigen Schlüssel in die Hand und erklärte mir ebenso konzise, wo in der Sakristei der kleinere Schlüssel für den Spielschrank denn hängen würde. Gesagt, getan, gefunden. 

Intensivkurs 

Oben an der Orgel angekommen ergab sich ein Intensivkurs mit einem einzigen Teilnehmer, der autodidaktischer nicht hätte sein können. So hatte ich alsbald begriffen, dass man den elektrischen Blasebalg per Schlüsselschalter aktivieren muss. Die Manubrien besaßen hingegen intuitiveren Aufforderungscharakter. Ein 8-Fuß-Register klang irgendwie normaler als eines mit der Bezeichnung 2'. Das experimentelle Registrieren nahm seinen Lauf. Aber immer wieder einmal zwischendurch alle vorhandenen Register zu ziehen und eine Menge geordneten Lärms zu veranstalten, das war selbstverständlich ein Erlebnis à la Ulrich von Hutten: Es ist eine Lust zu leben.

Noten hatte ich keine dabei. Zu dieser Zeit konnte ich jedoch – nach ein paar Jahren Klavierunterricht – gut auswendig spielen. Und so gab es etwas aus dem sog. Neuen Gurlitt, ich glaube "Thema mit Variationen" in G-Dur, und eine kleine Kadenz in a-Moll, die ich im Klavierunterricht aus Selbstkraft zu variieren gelernt hatte. Eigentlich für eine Orgel recht passende Stücke. Erste Pedaltöne gesellten sich hinzu. 

Eine alte Orgel

Dass ich es mit einer verhältnismäßig alten Orgel zu tun hatte, war mir klar. Immerhin hatte ich sie der vernehmlich kleineren und offensichtlich auch jüngeren Orgel der benachbarten katholischen Filialkirche vorgezogen. Ob auch die von mir als attraktiv empfundene marmorisierende Holzbemalung oder der Standort in der Kirche eines anderen Ritus weitere Entscheidungsgründe waren, kann ich nicht mehr seriös beantworten. Die besondere Provenienz als nahezu unverändertes Instrument der Silbermann-Schule beschäftigte mich gleichwohl später. 

(Fortsetzung unten!)

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Johann Friedrich Heidenreich (Bayreuth) - Kirchahorn 1833/34

Manual C-f'''

Principal 8' (bis h Zink/Prospekt nicht original)
Bordun 8'
Gemshorn 8'
Flauttraver 8'
Octave 4'
Salicional 4'
Flötdus 4'
Quint 3'
Octave 2'
Mixtur 4 fach* 

Pedal C-d'

Subbaß 16'
Octavbaß 8'
Überbaß 4' (nicht original/ehemals Kalkantenzug)

Koppel

* vermutlich reorganisierte Mixturchöre: "auf C: 2', 1⅓', 1', ⅔'; auf c: 4', 2⅔', 2', 1⅓'; auf c²: 8', 4', 2'"

Angaben zu Prospektpfeifen, Mixturchören und Überbaß/Choralbaß 4' lt. Egert Pöhlmann, Die Orgel der Gebrüder Heidenreich in Hof - St. Michaelis und einige kleinere Instrumente der Orgelbauerfamilie, Hof 1967 (unter Bezug auf die Pfarramtsakten 166/176 und Rechnungen 1833/34, Beleg Nr. 16)

Die Heidenreichs disponierten nachweislich - als eher konservativ agierende Orgelbauer der sog. Silbermann-Schule - terzhaltige Mixturen. Vor der Modifikation der Kirchahorner Mixtur, wie sie Pöhlmann feststellt, war offenbar eine terzhaltige vorhanden. Terzhaltige Mixturen haben u.a. den Effekt, fehlende Zungenstimmen (typisch für den süddeutschen Orgeltyp) klanglich zu kompensieren, da sie einen farbig-satten Sound generieren. 

Es wäre ein Gewinn an Authentizität für die Kirchahorner Orgel, die Rekonstruktion einer für Heidenreich typischen 4fachen Mixtur mit Terzen ins Auge zu fassen, um einen wahrlich oberfränkischen Orgelklang an der biedermeierlich-klassizistischen Schwelle vom Spätbarock zur Romantik zu Gehör zu bringen. Festzustellen bleibt, dass in dieser Orgel ein mehr als erstaunlich hohes Maß an Orginalsubstanz vorhanden ist. In dieser Hinsicht ist sie dem Heidenreichschen Opus magnum der Hofer Orgel weit überlegen.
 
Vgl. hierzu: Ludger Stühlmeyer, Curia sonans. Die Musikgeschichte der Stadt Hof. Eine Studie zur Kultur Oberfrankens. Von der Gründung des Bistums Bamberg bis zur Gegenwart. Heinrichs-Verlag, Bayerische Verlagsanstalt, Bamberg 2010, ISBN 978-3-89889-155-4. insb. S. 203

 weitere organologische Informationen in Vorbereitung 

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Spiegel des Schicksals

Den damaligen Chef unserer Unterkunft, den musikalischen Gastwirt Hans Hofmann, nahm ich als Organisten von St. Michael und Jakobus erst wahr, als ich an einem der folgenden Sonntage sofort nach dem Ende des katholischen Hochamts zur evangelischen Kirche hinüberrannte, um dort zumindest noch das Ende des Gottesdienstes mitsamt der Orgel zu erleben. Ein evangelischer Hauptgottesdienst mit vollbesetzten Emporen und einem stehend geschmetterten "Nun danket alle Gott" unter Orgelgebrause war für mich eine neue sinnliche Erfahrung. Nach dem Gottesdienst wurde ich allerdings auf der Empore von einem Herrn etwas barsch angesprochen: Warum ich denn gesessen hätte, wenn alle stehen? Wenn man irgendwo Gast sei, dann solle man sich an die dortigen Regeln halten. Ich fühlte mich beschämt, und mir ging erst im Laufe der Jahre auf, wie er doch ungeachtet des Tones Recht hatte. 

Von Hans Hofmann und anderen Einheimischen erfuhr ich dann, dass die Orgel nach dem großen Kirchahorner Brand von 1818 und der Wiedererrichtung der Kirche gebaut worden sei. Damit war für mich das Thema "historische Orgel" erst einmal hinreichend beantwortet, da ich sie – grundsätzlich heimatkundlich interessiert – als Spiegel des Schicksals der Kirchahorner wahrnahm.

Kontingenzfrage

Meine kleine Orgelexkursion in St. Michael und Jakobus wiederholte sich – ich meine mindestens zweimal. Eine gewisse Vertrautheit entstand. Sigmund Freud würde wohl insgesamt von Besetzung sprechen. Und so war es geschehen: Das Thema Orgel wurde nach all der positiven familiären Prädisponierung zu meinem ganz eigenen. Ich wusste jetzt, worum es geht. 

Zuhause erfolgten weitere Orgelerkundungen, die sich jedoch weitaus schwieriger gestalteten. Mein späterer Orgelunterricht – zunächst beim Organisten und Chorleiter Wilderich Piechatzek in Christus-König zu Bockum-Hövel – hatte in Kirchahorn sein Fundamentum gefunden. 

Was wäre gewesen, wenn der Pfarrer damals nach einer erwachsenen Begleitperson oder der Haftpflichtversicherung meiner Eltern gefragt hätte? Nein, das wären Fragen von heute - aus einer durchrechtlichten und klageaffinen Gesellschaft. Er hätte aber aus irgendeinem Grunde meine Klangexkursion verhindern können. Hätte ich aufgegeben? Ich weiß es nicht.

Die Kontingenzfrage dieses Freiheit atmenden Sommerurlaubs 1976 soll gewiss nicht überstrapaziert werden. Und so bin ich für diese initiale Erfahrung schlichtweg eines: nämlich von Herzen dankbar. 

© Matthias Paulus Kleine/August 2025


                                                                                                                

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