Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
Der mütterliche Teil meiner Familie stammt aus
Oberfranken.
Es wäre an dieser Stelle recht müßig, die Beziehung im Genaueren darzulegen, die
meine Familie mit diesem Ort verbindet. Sie ergab sich schlussendlich durch meine
Großmutter – die mir den Klavierunterricht empfahl und
gönnte – und den Sozialdemokraten Max Fischer, der in Kirchahorn einst
Oberlehrer
war, in verwandtschaftlicher Hinsicht. Letztlich stelle ich aber fest:
Das Phänomen "Kirchahorn" gehört zu meiner
kulturellen DNA, und das hat einen besonderen Grund. Er ist
musikalischer Natur.
Eine launige Idee
Während der genannten Ferientage kam ich als Zwölfjähriger auf die launige Idee, die dortige Orgel der evangelischen Kirche zu erkunden. Irgendwie muss sie mich absolut angezogen haben. Die Glocken waren das eine, was mich triggerte. Aber der Orgelklang schien mir doch steuerbarer, ja gestaltbarer zu sein.
Mein kriegsversehrter Klavierlehrer Heinz Beekmans war vor seinem Ruhestand Organist und Chorleiter, das wusste ich, aber das Instrument Orgel war bis auf eine einzige Gelegenheit, in der ich stolz eine Orgelschallplatte mitbrachte und zeigte, nie das Thema. Er reagierte recht zurückhaltend. Vielleicht hat es ihn auch zu sehr geschmerzt, da das verlorene Bein wahrlich ein existenzieller Verlust für ihn als Organisten war. Die Schallplatte entstammte übrigens der Sammlung meines Vaters. Ich erinnere mich auch gut daran, dass wir nach der Messe oftmals sitzen blieben, um das Orgelnachspiel aufmerksamer zu hören. Mein Vater hatte also alles richtig gemacht.
In meiner Heimatkirche St. Pankratius zu Bockum-Hövel konnte man die Organistin, die Musiklehrerin Helene (gen. Leni) Schulze-Everding, am Spieltisch beobachten. Er stand zunächst vorne rechts mit einem lustigen Sichtschutz und dann für lange Zeit links völlig einsehbar in der Nähe des Altars. Wenn einmal ein anderer Organist seinen Dienst versah und bei einer Forte-Registrierung mit merklich mehr oberkörperlichen Bewegungen "in die Tasten haute", war es für mich eine Attraktion. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass derlei turnerische Verrenkungen bei einer Orgel gar keinen klanglichen Effekt haben.
Kurzum: Eine Orgel war für mich ein Faszinosum, das ich erforschen wollte. Und die Gelegenheit schien in Kirchahorn äußerst gut zu sein. Purer Kairós. Nicht ohne Grund hat dieser mythische Geselle einen kahlen Hinterkopf und – man übersieht es gern – Flügel an den Fersen.
Allen Mut zusammengenommen klingelte ich an der Tür des evangelischen Pfarrhauses. Daran führte kein Weg vorbei, die Kirche St. Michael und Jakobus war zwar geöffnet, die Empore zugänglich, aber der Spielschrank der Orgel unbarmherzigst verschlossen. Ich kann mich daran erinnern, dass gutes Wetter war, an meine Worte indes nicht. Sie müssen wohl aber zielführend gewesen sein. Der Pfarrer drückte mir nach einem freundlichen und unverhofft kurzen Gespräch einen erschreckend riesigen Schlüssel in die Hand und erklärte mir ebenso konzise, wo in der Sakristei der kleinere Schlüssel für den Spielschrank denn hängen würde. Gesagt, getan, gefunden.
Oben an der Orgel angekommen ergab sich ein Intensivkurs mit einem einzigen Teilnehmer, der autodidaktischer nicht hätte sein können. So hatte ich alsbald begriffen, dass man den elektrischen Blasebalg per Schlüsselschalter aktivieren muss. Die Manubrien besaßen hingegen intuitiveren Aufforderungscharakter. Ein 8-Fuß-Register klang irgendwie normaler als eines mit der Bezeichnung 2'. Das experimentelle Registrieren nahm seinen Lauf. Aber immer wieder einmal zwischendurch alle vorhandenen Register zu ziehen und eine Menge geordneten Lärms zu veranstalten, das war selbstverständlich ein Erlebnis à la Ulrich von Hutten: Es ist eine Lust zu leben.
Noten hatte ich keine dabei. Zu dieser Zeit konnte ich jedoch – nach ein paar Jahren Klavierunterricht – gut auswendig spielen. Und so gab es etwas aus dem sog. Neuen Gurlitt, ich glaube "Thema mit Variationen" in G-Dur, und eine kleine Kadenz in a-Moll, die ich im Klavierunterricht aus Selbstkraft zu variieren gelernt hatte. Eigentlich für eine Orgel recht passende Stücke. Erste Pedaltöne gesellten sich hinzu.
Eine alte Orgel
Dass ich es mit einer verhältnismäßig alten Orgel zu tun hatte, war mir klar. Immerhin hatte ich sie der vernehmlich kleineren und offensichtlich auch jüngeren Orgel der benachbarten katholischen Filialkirche vorgezogen. Ob auch die von mir als attraktiv empfundene marmorisierende Holzbemalung oder der Standort in der Kirche eines anderen Ritus weitere Entscheidungsgründe waren, kann ich nicht mehr seriös beantworten. Die besondere Provenienz als nahezu unverändertes Instrument der Silbermann-Schule beschäftigte mich gleichwohl später.
(Fortsetzung unten!)
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Manual C-f'''
Principal 8' (bis h Zink/Prospekt nicht original)
Bordun 8'
Gemshorn 8'
Flauttraver 8'
Octave 4'
Salicional 4'
Flötdus 4'
Quint 3'
Octave 2'
Mixtur 4 fach*
Pedal C-d'
Subbaß 16'
Octavbaß 8'
Überbaß 4' (nicht original/ehemals Kalkantenzug)
Koppel
* vermutlich reorganisierte Mixturchöre: "auf C: 2', 1⅓', 1', ⅔'; auf c: 4', 2⅔', 2', 1⅓'; auf c²: 8', 4', 2'"

Die Heidenreichs disponierten nachweislich - als eher konservativ agierende Orgelbauer der sog. Silbermann-Schule - terzhaltige Mixturen. Vor der Modifikation der Kirchahorner Mixtur, wie sie Pöhlmann feststellt, war offenbar eine terzhaltige vorhanden. Terzhaltige Mixturen haben u.a. den Effekt, fehlende Zungenstimmen (typisch für den süddeutschen Orgeltyp) klanglich zu kompensieren, da sie einen farbig-satten Sound generieren.
weitere organologische Informationen in Vorbereitung
Meine kleine Orgelexkursion in St. Michael und Jakobus wiederholte sich – ich meine mindestens zweimal. Eine gewisse Vertrautheit entstand. Sigmund Freud würde wohl insgesamt von Besetzung sprechen. Und so war es geschehen: Das Thema Orgel wurde nach all der positiven familiären Prädisponierung zu meinem ganz eigenen. Ich wusste jetzt, worum es geht.
Zuhause erfolgten weitere Orgelerkundungen, die sich jedoch
weitaus schwieriger gestalteten. Mein späterer
Orgelunterricht – zunächst beim Organisten und Chorleiter Wilderich
Piechatzek in Christus-König zu Bockum-Hövel – hatte in Kirchahorn sein Fundamentum gefunden.
Was wäre gewesen, wenn der Pfarrer damals nach einer erwachsenen Begleitperson oder der Haftpflichtversicherung meiner Eltern gefragt hätte? Nein, das wären Fragen von heute - aus einer durchrechtlichten und klageaffinen Gesellschaft. Er hätte aber aus irgendeinem Grunde meine Klangexkursion verhindern können. Hätte ich aufgegeben? Ich weiß es nicht.
Die Kontingenzfrage dieses Freiheit atmenden Sommerurlaubs 1976 soll gewiss nicht überstrapaziert werden. Und so bin ich für diese initiale Erfahrung schlichtweg eines: nämlich von Herzen dankbar.
© Matthias Paulus Kleine/August 2025