Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601

                                                                                                                                                                            

Orgelbewegung: Dynamisches Leitmotiv vs. Stilmode  

Im Folgenden sei ein profunder, jedoch de facto wenig auffindbarer Forenbeitrag des Kölner Musikwissenschaftlers Dr. Roland Eberlein wiedergegeben, der in www.Orgelinformation.de gepostet wurde. Diese Seite ist deshalb sehr empfehlenswert, da sie nicht nur reiflich überlegte Inhalte zum Besten gibt, sondern auch - man schaue unter Kolumne nach - unterhaltsam ist. Sie stellt mittlerweile in der deutschen Kirchenmusikerszene eine der besten Hausnummern dar, die virtuell verfügbar sind.

Eberleins Gedanken zum häufig unreflektiert benutzten Terminus Orgelbewegung sind deshalb hoch zu veranschlagen, weil sie den grundsätzlichen Innovationswert der Instrumente dieser Orgelbauphase(n) darlegen. Oft dokumentiert sich in diesen Orgeln die Suche nach Neuem. Dass Patrone wie Schnitger und Silbermann als Garanten eines gülden geglaubten Zeitalters dabei stets hoch auf dem Sockel standen, steht ohne Zweifel fest. Es veranlasste die Instrumentenbauer auch nach ihrem Gang durch die Institutionen, neue Synthesen zu entwerfen, die man heute leider angesichts grassierend historistischer Mode-Orgeln kaum finden kann. Mit anderen Worten: Viele Instrumente der Orgelbewegung muten sehr dialektisch-kreativ an. Dass es auch Kreationen mit knäckebrotcharmanten Sound gibt, die unter dem Diktum der Mär vom niedrigen Winddruck ihr Dasein fristen, soll hier außer Frage stehen. Sollte man sich aber per se von seinen eigenen biographisch gewachsenen  und sicher auch kontingenten Hörgewohnheiten derart leiten lassen, dass sie zum Maßstab für andere Ohren werden?

Der durchweg kulturhistorische Wert dieser Instrumente sollte eine gewisse Behutsamkeit zum Standard werden lassen. Oft müssen Totschlagargumente herhalten, wenn Instrumente der Orgelbewegung abgerissen werden sollen. Derlei Strategien stehen jedoch noch in einem ganz anderen Kapitel (siehe hier).  (mpk)

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Innovative Leitmotive der Orgelbewegung vs. Stilmoden heutiger Orgeln 

„Ich glaube, das Kernproblem bei der Beantwortung der Frage "wann endete die Orgelbewegung?" ist, auf welche Weise man das Wort "Orgelbewegung" versteht. Meint man eine von bestimmten Leuten getragene orgelbaupolitische Gruppierung, so muß man die Grenze wohl um 1950-60 ziehen, da damals

1. das ursprüngliche Personal wechselte: 1958 ging Wilibald Gurlitt in Ruhestand, 1963 starb er; Hans Henny Jahnn starb 1959, wandte sich aber schon nach seiner Rückkehr 1950 primär nicht-orgelbaulichen Fragen zu wie der westdeutschen Wiederbewaffnung und der atomaren Bedrohung der Menschheit. Christhard Mahrenholz lebte zwar bis 1980, ging aber 1953 zum Landeskirchenamt Hannover und war fortan primär mit theologischen Fragen beschäftigt. Günther Ramin starb 1956. An ihre Stelle trat eine jüngere Generation: Walter Supper, Helmut Bornefeld, Ernst Karl Rössler usw.

2. Die Rahmenbedingungen änderten sich nach 1950: Aus der lockeren, informalen Kooperation von Gleichgesinnten wurde durch die Gründung der Gesellschaft der Orgelfreunde eine Institution. Außerdem eroberten die von der Orgelbewegung geprägten Leute allmählich die einflußreichen Orgelrevisorenposten und Lehrstühle an den Musikhochschulen. Die "Bewegung" hatte damit gesiegt und sich selbst überflüssig gemacht.

Aber natürlich wirkten die Gedanken der Orgelbewegung weiter. Versteht man daher den Begriff "Orgelbewegung" als den Namen jener Phase, in denen die Ideen der Orgelbewegung die Orgelwelt dominierten, so liegt das Ende natürlich viel, viel später. Reduziert man die Orgelbewegung auf mehr oder weniger historisierenden Orgelbau, so wie das Kraus anscheinend tut, so würde wohl noch die Gegenwart dazuzählen.  

"Sind schon die wirtschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen im Moment schwierig, gravierender noch wiegt die auch im Orgelbau grassierende Fantasie- und Perspektivenlosigkeit. Seit dem Niedergang des Neobarock feiert der Neo-Historismus fröhliche Urständ: Italienisch nach Frescobaldi, französisch a la Dom Bedos oder Cavaillé Coll, Orgeln streng nach Schnitger, Silbermann oder Sauer - auf dem Papier kein Problem. Die Beschriftungen auf den Registerknöpfen sind jedoch häufig die einzigen stimmigen Zutaten beim Historiengemälde. Ganz Verwegene komponieren aus oberschwäbischen Prinzipalen, osteuropäischen Flöten, mitteldeutschen Streichern und frankophilen Walcker´schen Zungen (aber bitte vor 1850!) ihr Orgel-Lieblingsgericht und ziehen missionierend mit ihren beglückenden Selbsterfahrungen durchs Land. ... Die heute wieder weit verbreitete Intonationsart mit hohem Winddruck, weiten Kernspalten und zahlreichen Kernstichen oder gefeilten Kernen befördert das Mittelmaß: Viele moderne Orgeln klingen meist ziemlich gleichmäßig (wichtig für die Abnahmeprüfung!), aber auf jeden Fall einfach nur noch laut." 

Dr. Martin Kares in einem Aufsatz der Seite Orgelexperte.de von 2001 (Vereinigung der Orgelsachverständigen Deutschlands)  mehr    

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Von Bach bis Kelsterbach – die Orgel der St. Martinskirche (Ein Beitrag von Rainer Noll): Im Jahre 1754 erhielt die aus dem 16. Jahrhundert stammende Vorgängerkirche, die um diese Zeit renoviert wurde, eine Orgel, über die wir weiter nichts wissen (Martin Balz, Reinhardt Menger: „Alte Orgeln in Hessen und Nassau“, Kassel 1997, S. 134). Nach der Wende zum 19. Jahrhundert wurde diese Kirche immer baufälliger. 1808 musste sie abgesprießt werden, die Gottesdienste fanden in der Schule und den oberen Pfarrhausräumen statt. Nach den Wirren der Napoleonischen Kriege 1813-15, die einen Neubauplan verzögerten, wurde sie 1817 abgerissen. 1819-23 wurde die heutige Kirche im klassizistischen Stil nach Entwürfen von Georg Moller (1784 – 1852), seit 1810 Oberbaurat und Hofbaurat des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, erbaut.  mehr    

  
Allerdings halte ich diese Reduktion für ein Mißverständnis. Die Orgelbewegung hat nie historische Orgelbaustile kopiert und wollte das auch nie tun. Es ging ihr vielmehr darum, aus dem Orgelbau früherer Zeiten allgemeine "Gesetze" des Orgelbaus abzuleiten, die dann im Orgelbau der Gegenwart in neuer und womöglich besserer Weise umgesetzt werden sollten. Dieser Gedanke prägte Jahnn, Mahrenholz und Paul Smets ebenso wie noch Supper, Bornefeld und Rössler. Insofern scheint es mir logisch zu sein, beide Generationen unter den Begriff "Orgelbewegung" zusammenzufassen.

Heute dagegen spielt dieser Gedanke überhaupt keine Rolle mehr. Der Leitgedanken unserer heutigen Musikkultur ist die historisch korrekte Ausführung historischer Musikwerke. Daher geht es den Einen um möglichst genaue Imitation älterer Stile, den Anderen um eine möglichst vielseitig für historische Orgelmusik verwendbare Vermischung von Elementen historischer Orgelstile. Wir leben folglich nicht mehr in der Epoche der Orgelbewegung, sondern in der Epoche des orgelbaulichen Historismus. Den Beginn dieser neuen Epoche würde ich auf ca. 1970-80 ansetzen, als die ersten strikten Kopien von historischen Orgelbaustilen entstanden, als Supper, Bornefeld, Rössler etc. von der Bühne abtraten und ein weiterer Generationswechsel in der Orgelwelt vollzogen wurde.

Und um auf ... (die) Frage zu antworten, " Wann kommen die Orgeln aus den Achtzigern dran, wann unsere Neubauten, auf die wir so stolz sind?" Sehr wahrscheinlich wird nach weiteren 2 Generationen, also um 2025 erneut ein Wechsel des Leitgedanken stattfinden. Und es wird auch nicht schwer zu erraten sein, um was es dann gehen wird: nämlich um eine Abkehr vom Historismus in unserem Musikleben zugunsten einer wie auch immer gearteten zeitgenössischen Musik. Folglich werden dann all die historischen Kopien aus unserer Zeit auf dem Index stehen, eben weil sie Kopien sind und als solche keinen historischen Wert beanspruchen können.“

Quelle: Forenbeitrag aus www.Orgelinformation.de (red. bearb./Fettdruck orig.)    
                                                            
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       

                                                                                                                         

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